Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
misstrauisch und dem Wahnsinn nah von einer Ecke des Raumes zur anderen. Inga schob sich an Monica vorbei und besah sich die metallenen Gegenstände.
„Ruhig, Ari … ganz ruhig“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, doch der Verrückte war aufgedreht. Seine Augen quollen weit aus den Höhlen, sein Atem ging hektisch. Er klirrte mit der Kette.
„Keine Zeit. Keine Zeit“, wiederholte er.
Inga legte ihm die Hand auf die Schulter. Es half nichts. Nach kurzer Zeit schlug er sie beiseite.
„Keine Zeit“, fauchte er abermals. „Sie ist … arrr … kann sie nicht lange abhalten. Sie weiß, dass ich wieder hier bin. Bald weiß sie alles. Müssen uns beeilen.“
„In Ordnung, Ari. Das ist es also? Bist du sicher, dass das Schloss seinen Zweck erfüllen wird?“
„Ist das Beste, das ich finden konnte. Kette und Schloss mit langer Geschichte. Sehr stabil konstruiert. Fast tausend Jahre auf dem Buckel und kein bisschen Rost. Habe lange gesucht, zu lange. Jetzt ist unsere Chance da. Müssens hinter uns bringen. Müssen …“
Monica konnte ihren Ohren kaum trauen. Ari war allein hergekommen und Inga interessierte sich nur für das Metall in seinen Händen.
„Was ist mit Harry?“, rief sie dazwischen, denn das war wohl die bedeutend wichtigste Frage bei aller Euphorie um ein unscheinbares Vorhängeschloss.
Ari antwortete nicht.
„Mein Kind“, sagte Inga und schoss einen nachsichtigen Blick auf sie ab, wie auf jemanden, der schwer von Begriff war und den man dafür bemitleidete, dass er nicht verstanden hatte, was Sache war. „Ari hat recht. Wir haben keine Zeit, um … “
„Was ist mit Harry?“, wiederholte Monica eindringlicher als zuvor und ballte die Fäuste. Sie vermochte ihre Stimme kaum zu kontrollieren.
Harry war nicht da. Es musste einen Grund dafür geben und sie hatte kein sehr gutes Gefühl dabei. Sie sah Ari an. Er versuchte ihrem Blick auszuweichen. Unnachgiebig fing sie ihn ein. Die Trübheit seiner Augen allein sprach Bände und ließen ihr Herz etliche Etagen tiefer sinken. Endlich schüttelte Sklaaten den Kopf und versetzte ihr damit einen letzten erschütternden Stich.
„Hat’s nicht geschafft“, sagte er kaum hörbar. „Die haben ihn erwischt … in seinem eigenen Haus. Habens abgebrannt und ihn gleich mit … Konnte nichts tun …“
Mehr vernahm Monica nicht mehr. Der Verrückte erzählte irgendwas von zwei Männern und einem Wagen, de r davongerast war, aber das waren unwichtige beiläufige Informationen. Harry war tot. Ganz einfach so. Vor nicht einmal drei Stunden war er am Leben gewesen. Und jetzt sollte das nicht mehr so sein?
Nein … Nein ...
Sie wollte es nicht wahrhaben. Unfassbar und doch real.
Ihre Beine gaben nach. Unbeholfen sackte sie zu Boden.
Alles umsonst , dachte sie. Alles umsonst. Und jetzt … Nein … Nein …
Monica schlug die Arme über dem Kopf zusammen und vergrub ihr Gesicht darin. Die Tränen brachen jeden Widerstand. Sie konnte sie nicht länger zurückhalten und weinte. Sie weinte wegen eines Mannes, den sie kaum gekannt hatte; dem Mann, der ihr Vater gewesen war.
***
Ihre ganze Wahrnehmung verschwand hinter einem Schleier. Sie sah kaum noch etwas, hörte nichts mehr, spürte nichts mehr. Es war als hätte ihr jemand ein starkes Betäubungsmittel verabreicht. Willenlos ließ sie sich einige Zeit später von Ari Sklaaten auf die Beine ziehen und in die Küche führen. Dort ließ man sie dankbarerweise Platz nehmen. Sie sank auf einen Stuhl und bekam ihre Tränen nicht unter Kontrolle. Ihr Körper bebte und hört e für lange Zeit nicht mehr damit auf.
Es war unmöglich zu sagen, wie lange sie letztendlich in diesem Zustand der tiefen Erschütterung, des Schocks und der Trauer verweilte. Sie wusste nur, dass - als sich der Tränenschleier vor ihren Augen lüftete - ihr erster Blick auf die Uhr über der Hintertür fiel. Die Zeiger verrieten ihr, dass der Nachmittag inzwischen weit fortgeschritten war.
Wie lange hatte sie wohl hier ge hockt? Eine Stunde? Zwei oder gar mehr?
Weder Ari noch Inga sagten etwas dazu. Als sie in Tränen aufgelöst auf dem Stuhl gekauert hatte, waren die beiden abwechselnd kurzzeitig aus der Küche verschwunden. Sie hatten Dinge hierhin und dorthin geräumt oder Schränke durchwühlt.
Im Augenblick packten sie einen alten grauen Rucksack mit Utensilien, die man am ehesten brauchte, wenn man beabsichtigte , Bergsteigen zu gehen.
Um Monica kümmerte sich keiner der beiden.
Anfangs hatte Inga ihr die
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