Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
gegen das Segelbootsheck. Er schob. Inga sagte nichts. Er sagte nichts. Niemand sagte etwas. Nur ihr aller Schnaufen, das Kratzen des Holzes über den feinen Sand und das leise Pfeifen, das von stärker werdendem Wind kündete, war zu hören.
Richtung und Ziel waren klar. Ihr Ende nahte. Es waren großartige Aussichten.
***
Kapitel 15
Zu viert minderten sich die Probleme beim Vorwärtskommen erheblich und so erreichten sie schon bald das Meer.
Ohne die zu befürchtenden, unerwünschten Nebeneffekte (wie beispielsweise sofortiges Untergehen oder Kentern) ließen sie Sandy zu Wasser. Einer nach dem anderen wagte den Einstieg. Das Boot hielt trotz seines durchweg ramponierten Äußeren allen Belastungen stand. Inga drückte jedem ein Paddel in die Hand.
Als sich Harry und ihre Augen trafen , versuchte er es ein letztes Mal. Über einen fragenden Blick kam er nicht hinaus, dann winkte Inga ab, setzte sich und stach ihr Paddel ins Wasser. Die anderen taten es ihr gleich und nach ein paar Minuten war das Ufer im Nebel verschwunden.
Der Wellengang schonte sie. Man konnte den Eindruck bekommen, Sandy glitte auf einem stillen Gewässer dahin, einem Binnenmeer oder einem See. Für ihr Vorankommen war dieser geringe Widerstand ein Geschenk. Harry malte sich düster aus, dass die Wellen heute nicht grundlos niedrig und schwach heranrollten. Margareta erwartete und verspottete sie, indem sie ihnen keine weiteren Hindernisse in den Weg stellte.
„Nicht zu viel denken; Harry Romdahl“, zischte Ari neben ihm.
Monoton paddelnd und schweigend versuchte Harry in der Folge nichts mehr zu denken, bis sie an dem Ort ankämen, an den er nie wieder hatte zurückkehren wollen. Und obgleich ihm diesmal keiner eine Pistole an den Kopf hielt, fühlte er sich keinen Deut besser.
Sie hielten sich an die vereinzelt aus dem Wasser ragenden Überreste des Zugangssteges und achteten dabei genau auf Trümmerteile, die womöglich unter Wasser lauerten und ihrer Weiterfahrt ein jähes Ende bereiten konnten.
Alle Vorsicht war umsonst. Im Wasser warteten keine Trümmer und keine Untiefen. Eine unspektakulärere Bootsfahrt konnte sich kaum einer von ihnen vorstellen und so wuchs die Anspannung erst ins Unerträgliche, als der Bug der Sandy sich in den nassen Sand der Sandbank grub. Der Wasserstand war dermaßen niedrig, dass die Sandbank rund einen halben Meter über dem Wasserspiegel lag. Auch das war alles andere als gewöhnlich. Normalerweise lag sie selbst am tiefsten Punkt bei Ebbe noch immer unter Wasser.
„Vorsicht jetzt“, flüsterte Inga und kletterte von Bord. Sie machte das mit einer Leichtigkeit, die man ihr nie im Leben zugetraut hätte, aber sie hatte Harry schon zu oft in den vergangenen Tagen überrascht, als dass er davon irgendwie erstaunt gewesen wäre. Mehr setzte ihm das eisige Schweigen und die provokante Missachtung zu, die Monica ihm entgegenbrachte. Wenn sie einmal einen Blick auf ihn warf, so war dieser verächtlich; wenn nicht sogar feindlich. Harry versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Sie waren da. In dieser Stunde hieß es: Augen offenhalten und bereit sein, bereit zum Handeln … jeglichem Handeln.
Die Dunkelheit war endgültig hereingebrochen und deshalb sahen sie , obwohl sich der Nebel wegen des deutlich kräftigeren Windes auf der Sandbank mehr und mehr verzog, weniger und weniger. Inga ging voraus. Sie hatte bereits eine Taschenlampe gezückt, sobald sie gar nichts mehr sahen, würde diese zumindest für etwas Erleuchtung sorgen. Die alte Frau ging furchtlosen Schrittes voraus. Dahinter folgten Ari und Monica. Ganz am Ende schleppte sich Harry über den nassen Sand.
Die Ebbe musste erst vor Kurzem ihren niedrigsten Stand erreicht haben, denn große Teile des Eilands lagen rund einen halben Meter über dem Meeresspiegel. Wie schnell sich das ändern konnte, wusste Harry allzu gut. Je nachdem, ob ein Wetterumschwung bevorstand, war es möglich, dass sie innerhalb der nächsten Stunde bereits durch hüfthohes Wasser wateten. Sie hatten wenig Zeit, darüber war sich Inga im Klaren und be schleunigten ihren Schritt.
Sie erreichten die zerstörten Stützpfeiler des Het Meeuwennest, als die Dunkelheit alles um sie herum zu verschlucken begann. Inga knipste die Taschenlampe an. Ihr Kegel wanderte unruhig über die kreuz und quer stehenden oder liegenden Pfähle, die wie spitze, schiefe Zähne in die Nacht hineinragten. Als sie die erste Reihe passierten, konnte man meinen, sie
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