Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
einer Kirchenglocke.
Es war Mitternacht und das Ende des Tages, an dem sich Ari Sklaaten Petr Stojic zum Todfeind gemacht hatte.
Kapitel 1
4. Juli 2012
Monica konnte kaum einen Meter weit sehen. Alles um sie herum war schwarz. K ein Mond. Nicht einmal ein paar Sterne zeigten sich am Himmel. Minutenlang hatte sie barfuß über sandigen Boden laufen müssen. Muschelsplitter und dorniges Dünengewächs hatten ihre Zehen, Fersen und Knöchel malträtiert. Sie spürte warmes Blut über ihre Füße rinnen und kalten Angstschweiß, der ihren Rücken hinunterlief. Ein steifer Seewind zerrte an ihrer Kleidung. Ihr Körper zitterte. Sie fror.
Ihrem Mörder war das egal. Er ging hinter ihr, die Pistole in der Hand. Dann und wann drückte er sie ihr ins Kreuz, um klarzustellen, dass es keinen Sinn machte, auf irgendwelche dummen Gedanken zu kommen. Sobald sie langsamer wurde, war sofort eine seiner Pranken zur Stelle, die zupackte und sie unnachgiebig vor sich herschob.
Sie wusste nicht mehr, wo die Straße war. Den Lieferwagen, aus dem er sie gezerrt hatte, hatte sie aus den Augen verloren. Er war einfach in der Dunkelheit verschwunden.
Monica wusste, was passieren würde. In diese Geschichte war sie einfach hineingeraten wie ein Steinchen in einen Schuh. Ein Steinchen, das überflüssig war und entfernt werden musste. Sie wollte weg von hier, weg aus der Dunkelheit. Ihr Innerstes rotierte vor Angst und ersann die kühnsten Fluchtpläne. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie war in diesem Augenblick kaum in der Lage normal zu atmen. Ihr Ende stand unmittelbar bevor, gleichwohl sie es weder wahrhaben wollte noch fassen konnte …
Vor Stunden hatten diese Geier sie am Leben gelassen. Viktor hatte eine Kugel scharf an ihrem Ohr vorbeigejagt und sie dazu gebracht, alles zu erzählen, was sie wusste.
Und jetzt? Jetzt war sie nicht mehr von Nutzen. Ihr Part in dieser Angelegenheit würde zwischen den Dünen Westenschouwens enden.
„Das ist weit genug“, knurrte Andrej. Monica blieb stehen. Unmittelbar vor ihren Füßen fiel der sandige Hügel steil ab. Wie weit es war bis zum Tiefpunkt der Senke verhüllte die Dunkelheit.
„Umdrehen!“
Monica wandte sich ihrem Mörder zu. Er war ein paar Meter hinter ihr zurückgeblieben, sodass sie nur die Umrisse seines massigen Körpers erkannte.
„Wieso tust du das?“, fragte sie. Ihre Stimme war brüchig und leise, die Kehle trocken.
„Befehl ist Befehl“, brummte Andrej. Sie sah, wie er einen Arm hob und ihn in ihre Richtung ausstreckte.
„Kann mir kaum vorstellen, dass deine Mutter das gut fände“, sagte Monica. Sie wusste nicht, wieso sie das sagte. Es war auch egal. Alles war vollkommen egal. Das hier war der letzte Akt ihres Lebens. Der Schlussakkord hatte eingesetzt. Alle Hoffnung war dahin. Es war vorbei.
„Ich hatte nie eine Mutter“, sagte Andrej.
„Und ich hatte nie einen Vater“, erwiderte Monica hastig und wich gleichzeitig Zentimeter zurück, bis ihre Fersen am Rand des Gefälles halb in der Luft hingen.
Ganz in der Nähe war das Kreischen eines Tieres zu hören. Es klang wie ein grässliches, gehässiges Lachen.
Andrej seufzte.
„Das ändert nichts“, sagte er. Eine Phrase, die etwas Unwiderrufliches in sich barg.
Unheilvoll klickte die Sicherung der Pistole. Dann kam der Schuss. Mündungsfeuer. Dunkelheit .
...
„Nein!“
Harry schreckte auf. Finsternis umgab ihn. Dazu gesellte sich der Geruch von Motoröl und Sägespä nen. Er vermochte nicht zu sagen, ob er träumte oder bereits wach war. Es hielt ihn nicht davon ab, seinen schmerzenden Körper instinktiv in die Vertikale zu stemmen.
Monica , dachte er nur . Sie braucht meine Hilfe.
Ganz gleich wo er war, er musste zu ihr; schnell!
Harry machte einen Schritt, obwohl er die Hand vor Augen nicht sah. Der Untergrund vibrierte. Motorbrummen wummerte dumpf in seinen Ohren. Die Eindrücke ergaben einen Sinn, dennoch: Er war gerade aus einer Ohnmacht erwacht, völlig verwirrt und hatte nicht die Zeit, sich einen Reim darauf zu machen. Eine unsichtbare Kraft riss ihn ohne Vorwarnung nach links. Harry torkelte und verlor das Gleichgewicht. Unsanft krachte er auf die Erde. Sofort danach wurde er mit voller Wucht nach rechts gezogen. Er schleifte über den Boden, dann knallte sein Schädel hart gegen kaltes Metall. Kurz wurde ihm schummerig und er drohte erneut das Bewusstsein zu verlieren. Die Wunde an seinem Hinterkopf pulsierte heftig. Sein Körper schrie vor
Weitere Kostenlose Bücher