Mogelpackung: Roman
dachte sie. Und ich brauche demnächst überhaupt nichts mehr. Eine Liedzeile ging ihr durch den Kopf: »Das letzte Hemd hat leider keine Taschen.« Hans Albers in »Das Herz von St. Pauli«. Hatte ihr Friedrich immer gesungen. Stimmte ja auch, mitnehmen kann keiner etwas ins Jenseits. Müsste Friedrich längst genauer wissen.
Sie nahm die kleine Plastiktüte mit dem Werbeaufdruck der Bornstedter Apotheke von der Kommode und ging damit ins Badezimmer zum Medizinschränkchen. Eine mickrige Kleinstpackung. Inhalt: ein läppischer Folienstreifen mit jämmerlich wenigen Tabletten. Davon würde sie höchstens gut schlafen, aber das konnte sie in der Regel auch ohne Tabletten ganz ausgezeichnet. Für diese minimale Ausbeute hatte sie nun das misstrauische Getue von Dr. Lorenz ertragen. Ein Blick in seinen elenden Computer und: »Frau Fried, ich habe Ihnen erst letzten Monat eine Großpackung verschrieben. Die können Sie doch unmöglich schon aufgebraucht haben!«
»Aus Versehen beim Aufräumen weggeschmissen«, hatte Gesche kühn behauptet, ohne mit der Wimper zu zucken. »Bin manchmal ein bisschen schusselig letzte Zeit.« Das zumindest war keinesfalls untertrieben.
»Dann schreibe ich Ihnen lieber nur die kleine Menge auf.«
Blöde Computer. Bei Lorenz’ Vorgänger wäre das alles kein Problem gewesen. Dr. Jurgeleit, alter Ostpreuße. War schon als Alkoholiker aus dem Krieg gekommen und führte grundsätzlich keine Aufzeichnungen. Einen Computer hätte der bestenfalls als Aschenbecher genutzt. Qualmte sogar während der Sprechstunde dicke Import-Zigarren. »Ich sehe Sie, Sie sehen mich – und wenn wir uns nicht mehr sehen, ist einer von uns beiden tot, oder es muss dringend mal wieder gelüftet werden«, war sein Standardspruch dazu gewesen. Aber bei Martins Geburt war Jurgeleit auf Zack. Die Straße zum zwanzig Kilometer entfernten Krankenhaus durch Schneewehen unpassierbar, und das Baby lag nicht richtig. Jurgeleit hatte die Zange angesetzt und Gesche hier, in ihrem Haus, von ihrem Sohn entbunden. In dem alten Haus, korrigierte sie sich, nicht in dieser Protzvilla. »Gelernt ist gelernt«, hatte sich der Arzt bei Martins erstem Schrei gefreut, und Gesche hatte sich in besten Händen gefühlt, obwohl sie wusste, dass Jurgeleit vor allem in diversen Lazaretten an der Ostfront gelernt hatte und Geburten dort eher nicht an der Tagesordnung gewesen sein konnten.
Ohne den alten Jurgeleit wäre ich schon bei Martins Geburt draufgegangen, dachte Gesche. Sie legte die kleine Tablettenpackung in den Medizinschrank, ging zurück ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster in den Garten. Martin ist später trotzdem gestorben, war also vielleicht gar nicht sinnvoll, dass wir damals von der Schippe gesprungen sind.
Unten im Garten bewegte sich etwas. Sie erkannte Fredo, der sich gerade vom Nachbargrundstück aus durch die Hecke drängte. Was hatte er denn da zu suchen gehabt? Immer auf Abwegen unterwegs, der Junge. Bloß nie da lang, wo die anderen gehen, und wenn man dafür mit dem Kopf durch die Hecke muss! Trotzdem – Gesche brauchte ihren Enkelsohn nur zu sehen, und schon fühlte sie sich weniger bedrückt. Und das warf ihre trübe Ansicht von der Sinnlosigkeit ihres Lebens sofort wieder über den Haufen. Sie hatte Martin geboren, und ohne Martin gäbe es keinen Fredo. Keinen Markus, keine Karla, keinen Tim. Es ist alles gut so gewesen, sagte sich Gesche. Ich muss es nur sauber zu Ende bringen.
Bloß, die Tabletten reichten noch lange nicht dafür. Bei Dr. Lorenz dürfte sie erst in ein oder zwei Monaten um Nachschub bitten, und dann bekäme sie garantiert auch wieder nur so eine Minipackung. Das reichte immer noch nicht. Und wer weiß, wie verblödet ihr verkalktes Gehirn bis dahin wäre. Am Ende wäre sie dann längst zu dämlich zum Schlucken.
Gab es denn keine andere Möglichkeit, in Würde abzutreten? Früher hätte man am Herd das Gas aufgedreht und den Kopf in den Backofen gesteckt. In der Protzvilla war natürlich alles elektrisch, und mit Strom kannte sich Gesche nicht gut aus. Gas, ja, das funktionierte wohl. Wenn man es denn hatte.
Gas. Vor Gesches geistigem Auge formte sich ein Bild: eine klobige, graue Stahlflasche. Der Wohnwagen von Martin und Sabine, mit dem sie ein paarmal ihren Familienurlaub verbracht hatten, damals, als Markus und Fredo noch klein waren. Den Wohnwagen gab es längst nicht mehr, aber Gesche erinnerte sich plötzlich genau an die stählerne Gasflasche aus dem Campinganhänger,
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