Mogelpackung: Roman
die Martin im ehemaligen Hühnerstall aufbewahrt hatte. Möglicherweise befand sie sich sogar heute noch dort.
Gesche schlüpfte wieder in ihre Jacke, ging die zwei Treppen hinab und trat in den Wintergarten. Ein Hauch von Parfum hing in der Luft. Eindeutig Karla, sie musste vor kurzem hier gewesen sein. Gesche öffnete die Außentür und durchquerte den Garten. Am hinteren Ende des Grundstücks stand ein betagtes, von wildem Wein überwuchertes Backsteingebäude. Bis in die späten fünfziger Jahre hinein hatten sie hier tatsächlich Hühner gehalten, später diente der Stall als Depot für Ausrangiertes. Markus hatte ihn beim Neubau der Villa nicht abreißen lassen, weil Dach und Gemäuer noch halbwegs in Schuss waren und man nie Abstellraum genug haben konnte.
Drinnen knipste Gesche Licht an. Normalerweise fand man hier nicht so leicht etwas wieder. Doch diesmal steuerte sie mit Glück und einem vagen Plan im Kopf fast auf Anhieb die richtige Ecke an. Die Stahlflasche stand hinter einem Stapel hölzerner Obstkisten. Gesche zerrte sie mühsam hervor. Die bauchige Flasche hatte ein beträchtliches Gewicht und reichte ihr bis weit übers Knie. Ob überhaupt noch Gas darin war, nach all den Jahren? Am oberen Ende gab es ein Ventil und ein kleines Rädchen. Gesche spuckte darauf und rieb es mit dem Taschentuch blank. Buchstaben kamen zum Vorschein: »Zu« und »Auf« und zwei Richtungspfeile. Sie drehte probeweise das Rädchen in Richtung »Auf«. Es zischte vernehmlich, schnell schloss sie das Ventil wieder. Ist noch was drin, freute sich Gesche. Und so schwer, wie mir die Flasche vorkommt, ist sie noch so gut wie voll. Nur, wenn ich sie ungestört benutzen will, muss ich sie in meine Wohnung schleppen. Der Hühnerstall ist zu groß und zu undicht, das funktioniert hier bestimmt nicht. Ich weiß zwar noch nicht genau, wann und wo ich sterben will – aber jedenfalls nicht in einem Stall. Auch wenn’s kein Stall mehr ist.
Gesche atmete tief durch, dann lupfte sie die Flasche vom Boden hoch und schwang sich den kompakten Behälter auf die Hüfte. Beinahe hätte sie das Gewicht in die Knie gezwungen, aber dann biss sie sich auf die Lippen, straffte sich und machte den ersten Schritt. Dann den nächsten. »Das letzte Hemd …«, keuchte Gesche leise und setzte im Takt des Liedes einen Fuß vor den anderen, »… hat leider keine Taschen … Man lebt nur … einmal, einmal, einmal auf der Welt … Drum lasst uns schnell … den kleinen Rest vernaschen … Im Himmel braucht der Mensch bestimmt … bestimmt kein Geld …«
NEWSFLASH FAMILIE FRIED:
Fredo: Bin Donnerstagabend weg. Einladung. (Daneben eine unbeholfene Kugelschreiberzeichnung: Glas mit Strohhalm und Schirmchen.)
Karla: Wo ist die verdammte Mülltonne?
Tim: Fällt jemandem was zu ›John Maynard‹ ein? (Daneben Bleistiftskizze eines Steuerrads, gehalten von zwei Knochenhänden, darüber ein grinsender Totenkopf.)
Gesche: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
13.
O bwohl es draußen gerade erst ein wenig dämmerte, ließ Helena Anatol in ihrer Wohnung alle Jalousien herunter, stellte die Lamellen senkrecht und zog davor noch die blickdichten Vorhänge zu. In der hereinbrechenden Dunkelheit würde sie so niemand zu sehen bekommen. Sie verbarrikadierte sich allerdings nicht bloß aus Sichtschutzgründen, gestand sich Helena ein. Bei geschlossenen Vorhängen fiel die Illusion leichter, es wäre schon spät und draußen längst Nacht. Dann konnte sie sich besser einreden, hundemüde zu sein und dringend ins Bett zu müssen. Vielleicht würde sie sogar früh einschlafen. Jetzt noch ein Glas Rotwein, das sollte funktionieren.
Helena holte sich Glas und Wein aus der Küche, öffnete die Flasche und studierte das Etikett. Luberon, Département Vaucluse. Gar nicht so kostspielig wie befürchtet, aber sie hatte eigens nach Hamburg fahren müssen, um sich den edlen Tropfen zu besorgen – und in die Großstadt fuhr sie sonst eher ungern. Sie goss ein, probierte und nickte anerkennend: Fredo Fried bewies Geschmack, zumindest hinsichtlich der Weinauswahl. Vielleicht hätte ich die geschenkte Pulle doch behalten und nicht auf sein Auto stellen sollen, dachte sie. Schade drum. Ich sollte überhaupt nicht so viel über diesen Mann nachdenken, rief sich die Lehrerin gleich wieder zur Ordnung. Das ist einfach nur ein Irrer mehr! Lars Schulz hatte ihr noch ein bisschen über Fredo Fried erzählt. Der Kollege hatte sie angesprochen, gleich am selben Tag nach
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