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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Horvath
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dieser Freunde und Mitschüler sprachen eine andere Sprache, wenn sie sich untereinander oder mit ihren Eltern unterhielten, Tomo verstand kein Wort. Das ist Albanisch, erklärte seine Mutter. Eines Tages wurde einer seiner albanischen Freunde in der Schule verprügelt, Tomo verteidigte ihn und bekam auch Prügel ab, und von da an nannten ihn die anderen Serben in der Klasse Verräter. Es gab mehr und mehr solche Prügeleien, und es kam auch auf der Straße immer öfter zu Kämpfen. Eines Tages fielen schließlich Bomben vom Himmel.
    Als der Bombenregen vorbei war, atmeten alle auf, doch das Leben wurde nicht einfacher. Mehr und mehr Serben verließen das Stadtviertel, in dem Tomo mit seinen Eltern wohnte, es gab eingeschlagene Scheiben in dem Geschäft, das seine Eltern zusammen mit dem Bruder der Mutter führten, die Reifen ihres Autos wurden aufgeschlitzt, bei Straßenkämpfen gab es immer wieder Tote in der Stadt. Tomos Eltern blieben trotzdem. Sie hatten sich hier eine neue Existenz aufgebaut und wollten nicht erneut alles aufgeben. Und dann kam Tomo eines Tages von der Schule, wollte in die Straße einbiegen, in der sich Geschäft und Wohnung befanden, doch sie war abgesperrt. In der Entfernung sah er Polizei und Rettung und Feuerwehr stehen, aus einem Haus, aus seinem Haus, wurde gerade eine Bahre herausgeschoben, darauf lag ein zugedeckter Körper, eine zweite Bahre folgte. Und dann rannte er los. Und rannte und rannte und rannte.
    Armer Tomo, sagt Nuriddin, und im selben Augenblick, als Anunu zu ihrer unvermeidlichen Kritik an meiner Geschichte ansetzen will, geht die Tür auf – und herein tritt Murad der Unerwünschte! Murad Magomazov, der du das Zimmer nicht mit zwei Negern teilen möchtest, trete ich ihm entgegen, was zum Teufel tust du hier bei der Schwarzen Köchin? Er weicht meinem Blick aus und drückt sich wortlos an mir vorbei. Pitra heißt ihn willkommen und reicht ihm einen Teller mit Huhn und Süßkartoffeln, Halima rückt zur Seite, um Platz für ihn zu machen, und er lässt sich auf dem Sofa nieder, als wäre er seit Anbeginn der Zeiten an genau diesem Ort zu Hause. Ich warne die Schwarze Köchin und ihre Gäste vor ihm, wie ich schon den Onkel und unsere Betreuer gewarnt habe, doch genau wie bei jenen stoße ich auch hier mit meinen Warnungen auf taube Ohren, und so verlasse ich resigniert den Raum.

4
    Obwohl Mira den ganzen Tag im Dienst ist, bekomme ich sie kaum zu Gesicht, die Verräterin, und das ist auch gut so. Sie kümmert sich viel um Murad, was abzusehen war, sie kümmert sich um Yaya, obwohl sie gar nicht seine Betreuerin ist, und wann immer sie Lukas Neuner begegnet, ist jenes widerliche Jungmädchenlächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen. Sie verlässt heute früher als sonst das Haus und sagt zu Tony, der mit ihr gemeinsam Dienst tut, sie hätte noch etwas zu erledigen. Spontan entschließe ich mich, ihr zu folgen. Vertrauen war gestern, heute ist Kontrolle angesagt, meine Aufgabe lautet nun einmal, ob ich will oder nicht, Zeugnis abzulegen vom Treiben der Menschen dieses Hauses.
    Sie geht zur Straßenbahnhaltestelle, ich lasse ihr einen Vorsprung von hundert Metern. Ich warte hinter einer Litfaßsäule und schwinge mich im letzten Augenblick auf das Achterdeck der roten Tram, Mira findet ganz vorne einen Sitzplatz, ich ganz hinten. Die füllige Erscheinung, neben die ich mich setze, man sieht es gleich, ist Mutter eines Manta-Fahrers, Großmutter zweier verzogener Gören, ihre Lieblingslektüre heißt Neue Post , die Lieblingsbeschäftigung ist Nachbarn beobachten. Sie wirft mir einen abschätzigen Blick zu und rückt demonstrativ zur Seite. Ich beiße nicht sehr fest, sage ich beschwichtigend zu ihr, es tut normalerweise nicht wirklich weh. Die Doppelkinnlade fällt herunter, der Mund öffnet sich zu einem Kommentar, doch es fehlen ihr die Worte, ich habe ihr die Sprache verschlagen.
    Es ist heiß und stickig in der Straßenbahn. Als ein junges Mädchen ein Fenster in der Mitte des Waggons öffnet, geht das Gezeter los. Es zieht, keift eine alte Frau in der Reihe dahinter. Aber es ist furchtbar heiß, kontert das Mädchen. Rotzpipen, freche, schimpft daraufhin die alte Frau, steht auf und schließt das Fenster. Schon will ich auf- und für das junge Mädchen in die Bresche springen, Ali, der Anwalt der Unterdrückten und Übervorteilten, der Beschützer der Geschmähten und Gedemütigten, der Retter der Witwen und Waisen, doch mir sind die Hände gebunden, die Lippen

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