Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
und ihn bedauert – die Wunde über dem linken Auge wurde mit sieben kunstvollen Stichen vernotarztet, die Nase und zwei weitere Stellen mit hübschen Pflastern geschmückt –, doch ansonsten scheint jeder jedem aus dem Weg zu gehen. Niemand spricht über den gestrigen Abend, und doch ist deutlich zu spüren, dass Yayas plötzlicher Gewaltausbruch bei meinen Mitbewohnern alte Wunden aufgerissen hat. Oma beispielsweise hat gestern Abend einen Weinkrampf bekommen, der eine Stunde lang anhielt, warum genau, konnte oder wollte sie nicht erklären. Auch mir geht die Sache natürlich nicht aus dem Kopf. Ich setze mich draußen auf das Baugerüst, es gibt da vor dem Fenster der Waschküche eine Stelle, die selbst bei starkem Regen trocken bleibt, der Blick fällt über die Dächer der Stadt, man ist ungestört, und ich denke über Yaya und Murad nach.
Als die Rauferei gestern losging, dachte ich zuerst, dass Herr Magomazov ja durchaus Prügel verdient. Doch Yaya ging natürlich zu weit, und wenn wir ihn nicht davon abgehalten hätten, dann wäre er ohne Zweifel noch weiter gegangen. Aber warum nur? All das wegen eines dunkelgrünen Steins? Glaubt man der österreichischen Bundesabschiebeministerin und einigen anderen vertrauenswürdigen Politikern, dann neigen Menschen mit schwarzer Hautfarbe grundsätzlich zu erhöhter Gewaltbereitschaft – wer’s nicht glaubt, der bekommt von mir zur Bestätigung gleich eins, zwei, drei auf den Rüssel –, doch das reicht als Erklärung in diesem konkreten Fall nicht aus. Yaya schien gestern Abend nicht er selbst zu sein, es war beinahe, als hätte jemand anderer von ihm Besitz ergriffen. Wahrscheinlich hatte er ein Flashback, und es ist unschwer zu erkennen, dass er schwer traumatisiert ist. Yaya gehört eindeutig zur Kategorie III der schwierigen Fälle, ist also ein Fall für Dr. Ali Idaulambo.
Interviewerin, eine blonde junge Dame mit rosa Minirock und roten Stöckelschuhen: Herr Dr. Idaulambo, worum genau handelt es sich bei einer … äh … post … äh … rheumatischen … entschuldigen Sie, posttraumatischen Belastungsstörung?
Dr. Idaulambo, angetan mit weißem Medizinermantel, der auf das Aparteste mit seinem dunklen Teint kontrastiert, milde lächelnd: Unter posttraumatischer Belastungsstörung, kurz PTBS genannt, versteht man eine protrahierte Reaktion auf ein außergewöhnlich belastendes oder bedrohliches Ereignis, dessen Tragweite die Strategien des Organismus für eine Bewältigung überfordert.
Aha.
Ereignisse, die eine solche Störung hervorrufen können, sind zum Beispiel Kriegserlebnisse, schwere Unfälle, Gewaltverbrechen, sexueller Missbrauch, Folter, Naturkatastrophen und Ähnliches.
Sehr interessant. Und die Symptome einer solchen post … äh … einer solchen Störung?
Dr. Idaulambo setzt eine rahmenlose Brille auf, die bisher an einem roten Band um seinen Hals hing. Sein Blick fällt auf die Beine der Interviewerin und gleitet zu ihren Füßen hinab. Er schüttelt den Kopf. Diese Schuhe!
Wie bitte?
Diese Stöckelschuhe … nein … Sie fragten nach den Symptomen, nicht wahr? Also, es handelt sich dabei üblicherweise sowohl um physische als auch um psychische Symptome. Typisch für die körperlichen Symptome sind Schlafstörungen, Appetitstörungen, Magen- und Darmprobleme, Kopfschmerzen sowie eine allgemein erhöhte Krankheitsanfälligkeit. Im Vordergrund stehen jedoch meist emotionale Reaktionen wie das ständige Wiedererleben des Traumas in Form von Albträumen oder sogenannten Flashbacks, bei denen die Betroffenen sich für kurze Zeit in traumatische Situationen zurückversetzt fühlen. Emotionale Taubheit, Dissoziationsphänomene – gewisse Körperteile werden als fremd, als nicht zum eigenen Körper gehörig, empfunden –, depressive Stimmungen, häufige Stimmungsschwankungen sowie ausgeprägte Konzentrationsschwierigkeiten sind weitere typische Symptome. Viele Betroffene isolieren sich außerdem zunehmend von ihrer Umwelt, sind oft leicht reizbar, aggressiv oder sogar gewalttätig, vor allem in Anbetracht von rosa Miniröcken und roten Stöckelschuhen.
Wie bitte?
Haben Sie heute Abend schon etwas vor?
Die Gesichtsfarbe der Interviewerin nähert sich dem Farbwert ihrer Schuhe. Aber … das … das Interview … Ich …
Oder morgen?
Ich … weiß nicht … Also, was ich fragen wollte: Diese Störung, was kann man gegen diese böse Störung tun?
Dr. Idaulambo nimmt die Brille wieder ab, er seufzt vernehmlich. Diese böse Störung wird
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