Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
gibt es im Zoo, den Zoo erreicht man mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und wie man die benutzt, egal ob auf dem Weg zum Tiergarten, zum Golfplatz oder zum Leichenschauhaus, das sollt ihr heute lernen.
Peer Learning, von Gleichaltrigen lernen, das ist im Haus jetzt plötzlich der letzte Schrei. Anderswo ist die Sache längst ein alter Hut, hier schickt man uns damit zum ersten Mal stolz auf den Laufsteg. Die »Alten« sollen den »Neuen« im Haus unter die Arme greifen, sollen die Grünschnäbel unter ihre Fittiche nehmen und ihnen beim Flüggewerden behilflich sein. Zwar bin ich selber noch nicht lange im Haus, doch wer, frage ich, ist dazu besser geeignet als ich? Murad und Oma sind die zwei jungfräulichen Seelen, noch gänzlich unbefleckt vom Schmutz der Großstadt, Nicoleta und ich wurden ausgewählt, um den beiden beim Akt der Entjungferung beizustehen, und so machen wir uns eines schönen Nachmittags auf den Weg, um Babylon, der großen Hure, oder zumindest Baby, ihrer kleinen Wiener Schwester, auf den Leib zu rücken.
Das, liebe Kinder, ist eine Bahn, die auf der Straße fährt, erkläre ich, als sich das lang gestreckte rote Gefährt in die Station schiebt. Habt ihr eure Monatskarten mit, frage ich, und alle nicken brav. Es ist übrigens ganz normal, wenn man angestarrt oder beschimpft wird, erkläre ich, nachdem wir Platz genommen haben, das gehört einfach dazu, vor allem dann, wenn man wie Oma oder ich kein Bleichgesicht ist. Aber die Menschen hier können ja gar nichts dafür, sie sind einfach noch nicht an die schönen dunklen Gesichter gewöhnt. Das Umvolkungsprogramm läuft zwar schon, und nachdem die weiße Rasse ohnehin im Aussterben begriffen ist, wird sich das Problem bald von selbst gelöst haben, aber bis dahin müsst ihr noch ein wenig Geduld haben. Wir sterben nicht aus, fühlt Murad sich bemüßigt zu widersprechen, was ich jedoch geflissentlich ignoriere.
Als wir aussteigen, werden wir von zwei Polizisten in Empfang genommen, sie verlangen unsere Ausweise und untersuchen mich anschließend bis auf die Unterwäsche nach Drogen. Das ist völlig normal, beruhige ich Oma und Murad, während die beiden Beamten in alle Körperöffnungen kriechen. Auf Wiedersehen, meine Herren, verabschiede ich mich schließlich höflich, und vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Wir überqueren die Straße. Auch das ist übrigens ganz normal, erkläre ich, als ich auf dem Zebrastreifen von zwei weißen Jugendlichen auf Englisch nach Drogen gefragt werde. Ihr habt wirklich unglaubliches Pech, antworte ich ihnen auf Deutsch, ihr habt nämlich den einzigen Schwarzen in dieser Stadt getroffen, der kein Drogenhändler ist!
Wir treten in die U-Bahn-Station und bleiben am oberen Ende der Rolltreppe stehen. Das, liebe Kinder, ist eine rollende Treppe. Ängstlich starren die beiden Stadtneulinge in die Tiefe. So etwas seht ihr wahrscheinlich zum ersten Mal, nicht wahr? Kommt, fordere ich sie auf, setze leichtfüßig den rechten Fuß auf die Rolltreppe, bringe den linken mit elegantem Schwung hinterher. Ist ganz einfach, sagt Nicoleta und folgt mir. Oma zögert kurz, sie blickt sich nach Murad um, dann fasst sie sich ein Herz und eine Seele gleich dazu, sie macht einen großen Schritt, vielleicht ein wenig zu groß, sie gerät ins Straucheln, jetzt fällt sie, nein, sie findet das Gleichgewicht wieder, indem sie sich an den Handlauf klammert wie ein Nichtschwimmer an den Rettungsring. Doch mit einem Mal erhellt sich ihr Antlitz, ein breites Grinsen wird sichtbar, und es ist das erste Mal, seit Oma bei uns ist, dass ihr Ausdruck nicht Angst, nicht Trauer, nicht Verlorenheit, sondern Freude verrät. Aber Murad, mit Murad hat man schon wieder nichts als Probleme: Der angeblich Erwünschte steht noch immer wie angewurzelt am oberen Treppenabsatz, während wir schon auf halbem Weg zum Erdmittelpunkt sind. Komm schon, ruft Nicoleta ihm zu, ist ganz einfach! Andere U-Bahn-Benutzer drängen sich an ihm vorbei, manche belustigt, manche verärgert, wie ein Klotz steht Murad da, und selbst aus der Entfernung kann man die Angst an seiner Haltung ablesen. Wir müssen ihn helfen, sagt Nicoleta. Du hast recht, gebe ich zurück. Rettet dem Murad, lautet die Devise, und dem Dativ gleich dazu! Ich überlege kurz, ob wir auf der zu Tal fahrenden Treppe hinauflaufen sollen, doch wir haben schon fast das Ende erreicht. Unten angekommen, fahren wir also gleich wieder hinauf. Warte unten, wir kommen gleich wieder, rufe ich Oma zu, doch sie
Weitere Kostenlose Bücher