Moloch
ihn wieder. Ein kleiner Senffleck verunzierte die verlockende Vorderseite ihres Kleides.
»Schnell, Diego, der Tanz beginnt jeden Augenblick! Du willst mich doch bestimmt nicht Passwater und all seinen Busenfreunden überlassen, nicht wahr?«
»Aber natürlich nicht.« Diego bot ihr seinen Arm an. »Darf ich bitten?«
Sie begaben sich zu dem abgesperrten Bereich und trafen in dem Moment ein, da die Bänder offiziell zur Seite genommen wurden. Diego und Volusia schwebten auf die Tanzfläche und wandten sich der Band zu. Die Musiker improvisierten, während sie auf ihren Leader warteten. Augenblicke später kam Rumbold Prague auf die Bühne geschlendert, hinter seiner Sonnenbrille das Sinnbild einer geringschätzigen, sich selbst herabwürdigenden Gleichgültigkeit. Spontaner Applaus brandete ihm entgegen, und als er die Trompete (hellrotes Metall von der gleichen Farbe wie das Blut der Stadtbestie, abgedeckt mit einem goldenen Dämpfer) an seine Lippen drückte, kehrte sofort Ruhe ein.
Gleich die ersten Töne rissen ein Loch in das Herz der Zuhörer. So bitter wie der Tod, so süß wie die erste Liebe, vergänglich wie beides zugleich, erfüllten sie den Saal mit akustischen Girlanden, die sich um sich selbst schlangen, sich aufbauten zu unmöglichen Crescendos, sich reduzierten zu kaum wahrnehmbarem Flüstern. Dass die Musik aus einem Monolithen mit dem unveränderlichen Ausdruck von schmerzhafter Geringschätzung drang, trug nur noch mehr zu ihrem Nachhall bei. Nach einigen Takten setzten auch die anderen Musiker ein, ein sanftes Bürsten auf dem Schlagzeug, ein gezupfter Bass, ein zärtlich gestreicheltes Saxophon, wehmütige Anschläge des Pianos.
Volusia packte Diego, als bestünde die Gefahr, ihn für immer zu verlieren, und sie begannen zu tanzen.
Nach dieser und zwei weiteren, gleichermaßen traurigen und bewegenden Nummern merkte Diego auf einmal, dass ihm jemand auf die Schulter tippte.
Bürgermeister Jobo Copperknob war ein Athlet auf dem absteigenden Ast, aber in seiner kahl rasierten Pracht immer noch beeindruckend. Bevor er in die Politik ging, hatte er für die Gritsavage Stokers als Profi-Basketballer gespielt, doch sein früher so ranker Körper war inzwischen längst einer deutlichen Beleibtheit zum Opfer gefallen.
»Volusia, mein Schatz! Ich darf annehmen, dies ist Ihr glücklicher Geliebter. Würden Sie uns bitte einander bekannt machen?«
»Diego Patchen, der beste Autor in ganz Gritsavage, Bürgermeister. Sein erstes Buch wird in Kürze erscheinen, und es wird ihn berühmt machen!«
»Volusia, ich würde…«
Copperknob wirkte ein wenig enttäuscht, als er hörte, welchen Beruf Diego ausübte, fast so, als würde es ihn für Volusias Zuneigung unwürdig machen. »Ich nehme an, Sie schreiben über all die üblichen Dinge für den Müll. Untreue Frauen, Armut, die Welt der Werbung.«
»Keineswegs! Ich schreibe Kosmogonische Fiktion!«
»Augenblick mal, Sie haben doch ›Schatten des Inquisitors‹ geschrieben. Ich habe diese Geschichte geliebt!«
»Sie lesen KF?«
»Das, und nichts anderes. Aber das ist ja wunderbar! Das passt hervorragend zu einem Plan, den ich heute Abend bekannt geben will. Aber erst einmal muss ich auf einem Tanz oder auch zwei mit meiner liebsten Dienerin am Volk bestehen. Diego, wenn Sie nichts dagegen haben…«
»Aber natürlich nicht, bitte, nur zu.«
Diego zog sich von der Tanzfläche zurück und sah mit einer Mischung aus Eifersucht und Stolz zu, wie Copperknob und Volusia tanzten. Nach einer Weile bekam er seine Partnerin zurück, nachdem der Bürgermeister dazu übergegangen war, andere Frauen für sich zu beanspruchen.
Schließlich hatte Volusia genug. »Meine Füße bringen mich um! Komm, wir setzen uns hin, bis Prague fertig gespielt hat.«
Diego war für diese Unterbrechung dankbar und begab sich mit Volusia zu den leeren Stühlen.
Als die Musiker ihre erste Pause einlegten – Prague ließ sich tatsächlich dazu herab, ein knappes »Danke« zu murmeln –, betrat Copperknob das Hauptpodest und griff sich ein Mikrofon.
»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Ich möchte eine wichtige Ankündigung machen.« Er bedeutete dem Bürgermeister von Palmerdale, einem ruhigen, dünnen und würdevollen Kerl, zu ihm zu kommen. »Im Gegenzug zu dem großzügigen Besuch meines guten Freundes Bürgermeister Quine plant die Stadt Gritsavage eine kulturelle diplomatische Mission nach Palmerdale. Sie besteht aus den Besten und den Klügsten aus unserer Mitte,
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