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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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erheben. Haut und Licht. Der Teint der Zeit. Die Frau hat zu Patrick gesagt, er dürfe alles küssen, was er sieht. Er hat das Foto betrachtet, zurückgeschoben und entsagt. Da hat sie ihm das Foto geschenkt.
    Greta lässt sich das Foto noch einmal zeigen:
    »Wie hältst du deine Abstinenz nur aus?«, fragt sie.
    »Ich bereite etwas vor«, antwortet er und geht zum Klo.
    »Ich glaube, der will sich umbringen«, flüstert Greta. »Ihr werdet sehen, der nimmt sich das Leben.«
    »Genauer gesagt, den Rest davon«, erwidert Til.
    Patrick kehrt zurück als homo suspectus. Kaum sitzt er, lächelt er vor sich hin, stochert wieder in seinem Essen und sagt:
    »Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist.«
    Aber wir sehen ihn wohl bloß beunruhigt an, deshalb ergänzt er noch:
    »Also gut: Ich werd Vater.«
     
    Angeblich ist da, unmittelbar bevor der Epileptiker seinen Anfall erleidet, eine letzte Klarheit: ein aufgestoßenes Fenster, ein Feld voller Kolkraben, sitzende Tänzer. Manchmal sind das die Momente eines Tages, der im Kollaps endet.
    Von heute bleiben vier: Ein fettes Kind mit unsympathischem, übellaunigem Gesicht und furchtbaren Narben auf den Armen nimmt mir jeden Gegenstand ab und hält ihn ins Licht.
    Nach viertelstündigem Schweigen sagt der Taxifahrer unvermittelt:
    »Ich bin mit diesem Toyota sehr zufrieden.«
    Dann schweigt er wieder, vielleicht, damit sich sein Satz setzen kann. Wohin?
    Der Mann am Informationsschalter hatte gesagt: »Ich gebe Auskunft über alles«, der Kunde erwiderte: »Auskunft, Auskunft über alles!«
    Ein Mann redet mit seinem Freund darüber, wie er mit seiner Freundin schläft und schwadroniert:
    »Unmittelbar nach dem Höhepunkt höre ich Dinge ganz scharf, die sonst nicht da sind: zum Beispiel das Knirschen einer Quarzuhr.«
    In den Augen des Zuhörers ist gerade nicht der Höhepunkt, sondern die Quarzuhr.
     
    Der Globus von weit oben gesehen, in der Geographie des Geredes: Da sind die Zonen hochaufgetürmten Stimmengewirrs, wo tausendfach im selben Moment die gleichen Worte ausgesprochen werden, dann dünnt es sich aus über den Meeren, wo vielleicht nur jemand mit Selbstgesprächen die Welt umsegelt, oder über den Wüsten Afrikas, wo irgendwo aus einer Dünensenke sich vielleicht eine einzige Stimme in ihrem Singsang erhebt, im stimmlosen Jauchzen, dem jubilare sine voce, dem Falsett des Wüsten-Jodelns, und dann wieder: »Kam er an den Rolandsbogen, ist der Pisspott weggeflogen«, »Maria durch ein Dornwald ging«, »Scheiße, mein Zug!«.
     
    Wie durch ein Leck kommt all die Rede in die Welt, wie durch eine Perforierung, gebildet aus den Mündern der vor sich hin Redenden, die auf ihrem Atemhauch Syntax in die Welt bringen, Schallwellen, Erschütterungen. Einsame Männer, die nachts in der Küche mit der Politik oder dem eigenen Leben abrechnen; Mönche, die in den Fernseher beten wie zur Frühgymnastik, und wenn der Papst erscheint, findet er sie auf Knien; Frauen, die sich für den Nachrichtensprecher hübsch machen; solche, die auf dem Bürgersteig stehen bleiben und in den Himmel gestikulieren; Ehefrauen, die allein über der Salatschüssel den Liebhaber herphantasieren, damit er ihrer Willkür gehorche; oder Alte, die um vier Uhr in der Frühe aufstehen, um nach einer Wanderung quer durch den Wald in einer Kirche zu beten, und noch während des Rückwegs beten, und zu Hause beten sie immer noch weiter mit dem rettenden Griff zum Rosenkranz. Ich habe sogar von einer glanzvoll verarmenden Familie gehört, die an festlichen Tagen zur Mahlzeit Tischreden vom Tonband abspielte. Über zehn Jahre war es her, dass diese Reden in dem Haus wirklich gehalten worden waren. Natürlich kannte sie jeder auswendig, und so kaute man sie mit beim Essen, ernst und deprimiert. Tatsächlich, das lebt. Ich lasse mir eine solche Rede bei einem solchen Essen auflegen. Es sind bedenkliche Zeiten, die Familie ist inzwischen im Armenstand, der Hausherr meint fatalistisch:
    »Auch der Polyp sondert bei Gefahr Tinte ab.«
     
    Man redet. Man setzt die Rede fort. Man schließt sie ab. Man schämt sich. Gerede. Die Würde, das ist die Entscheidung zu enden.
    »Versetz dich doch mal in mich hinein!«
    Sie sagt es mit flehentlichem Schmunzelmund, wohl wissend, dass man so redet.
    »Verzeih, ich kann deinen Standpunkt nur sehen, nicht einnehmen.«
    Am Morgen danach ist es an mir, über ein Gefühl der Kühle zu klagen, das sie an mir moniert hatte, ehe sie in ihrem Taxi verschwand. Der

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