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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Himmel war eiskalt und klar. Die Erinnerung umschwärmte ihre Bluse aus Fallschirmseide und den merkwürdig gerippten Mantel sowie ihre schönen alten Augen, in denen die Kontaktlinsen von den Gesten der Müdigkeit mehrfach verschoben worden waren.
    »Das ist Deutschland«, sage ich, »diese freche asoziale Benehmung«, weil das der Taxifahrer mal so zu mir gesagt hat, der da wie ihr Komplize plötzlich wieder am Steuer des Wagens sitzt, in dem sie so enttäuscht auf und davon fährt. »Traurig, aber wahr«, hat er damals gesagt, und ich wiederhole es jetzt, in den Blick des Fahrers hinein, »traurig, aber wahr«, und er lächelt, sie nicht.
     
    Im Flugzeug herrschen diese strengen, unausweichlichen Stewardessen der »Iberia«, gegen die jeder Steward effeminiert wirkt, wenn er mit seinem kurzärmeligen weißen Hemd und seinen aufgewärmten Croissants durch den Gang kommt. Außerdem reisen hier mehrere riesige, übergewichtige, schwarzbehaarte Spanierinnen, die sich dauernd den Kopf stoßen, im Gang auf und ab schaukeln, dreimal pro Stunde das Klo aufsuchen, um anschließend stöhnend wieder ihren Platz einzunehmen, nachdem sie erst desorientiert an ihrer Reihe vorbeigetrottet sind. Dann jedenfalls lassen sie sich ächzend fallen wie nach einer langen Reise, so dass auch der Sitz orgiastisch kreischt. Ihre Mienen schmollen in einem fort. Dies zumindest ist der Faltenwurf, den ihre Gesichter endlich angenommen haben. Sie riechen wie geharzter Wein, sie atmen den Kellergeruch von Ölschinken, sie rasten im Mittelgang und lassen sich lesen wie Gewandstudien nach altem Vorbild. Sie blicken auf ihre dünnen Männer aus einer Sonnenfinsternis der Liebe. Wohin führt mich dein Gesichtsausdruck?, fragt der des Mannes. In Gegenden, von denen du nur träumen kannst, erwidert der seiner Frau.
     
    In der Nacht bin ich aufgestanden in dem Gefühl, ich müsste mir das Meer ansehen. So wie es daliegt, kommt es mir noch ungeheuerlicher vor. Nur die Gischt ist jetzt noch aktiv, und es wirkt, als würden die Schaumkronen im Meer-Inneren entspringen und in einem Fächer aus Stoffbahnen entrollt. Zwischen den Klippen in Ufernähe, die sich hell gegen das Nachtschwarz abheben, wogt der Schaum wie lebendiges Fleisch rund um den Felsbrocken, das tausendjährige Reptil.
    Zu dieser Zeit herrscht auf der gewundenen Uferstraße noch reger Verkehr, und die Frauen, die dort stehen, lecken sich, wenn man vorbeigeht, mit der Zunge die Oberlippen. Dazu klappert aus den Fenstern das Geschirr des Nachtessens. Die Katzen tappen heraus zur Jagd. Die Autos zirkulieren langsam, richtungslos. Woher kommt das, dass die Lust immer noch mit der Befeuchtung der Oberlippe assoziiert wird? Ich wende mich wieder dem Meer zu und finde es um Jahre gealtert.
     
    Ich wollte sein, wo ich bin: in einem Garten voller Pfauen, Hühner und Kanaris, mit Cocktails voller geschreddertem Eis und Reisenden, behangen mit Ferienattributen. Die Frauen tragen plötzlich seidene Turbane wie die Zigeunerinnen, die Männer Tropenhelme und Safari-Khaki-Hosen. Sie rauchen solidarisch Havannas und wedeln sich mit Sandelholzfächern Atemluft zu. Das Holzaroma bleibt in der Luft. Die Hosen bekommen selbst am Körper Stockflecken, so schwül ist es. Der Garten streckt sich auf einer Anhöhe über den Buden, vor dem Meer. Die Horizontlinie des Ozeans wird manchmal von fernen Regenschauern verwischt, manchmal von einem großen roten Frachter unterbrochen. Jetzt fällt auch hier ein Schauer. Doch die Gesichter heben sich bloß und lassen es geschehen.
    Man kommt am Tag allein mit Getränken aus, mit dem Blick auf die »Jineteras«, die »Reiterinnen«, wie die Prostituierten hier heißen, oder auf die kleinen Serviermädchen in kurzen Röcken und auf Plateausohlen, Mädchen, die die Dienstleistung als eine dekorative Tätigkeit interpretieren. Die Männer blättern ihnen das Trinkgeld hin in verschwitzten Scheinen. Draußen die Armen: Sie können sich nicht mehr vorstellen, was die Reichen eigentlich noch wollen. Das alles gerinnt in Schwermut und Stolz. Und der alternde Goucho am Nebentisch ist eine Karikatur: »porcus magistralis, das thronende Schwein«. Gerade schwärmt er einer Kupplerin gegenüber von der Vorstellung, sich zwischen große Beine zu legen, und tut so, als sei er es, der sich dabei verschwende. Anschließend beugen sie sich beide über die mögliche Bettszene wie Kinder, die unter dem Brennglas ein Insekt zum Erstarren, dann Tanzen, dann Sterben bringen, und der

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