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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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schleicht sich an, sinkt sorgenvoll in sich zusammen. Sie spitzt ihr Mündchen bis Zoologischer Garten.
    Die Bewegungen der Bahn sind rabiat, der Schwangeren wird der Bauch nach rechts und links geworfen, sie justiert ihn mal mit der einen, dann mit der anderen Hand. Schulmädchen kommen, kauen ihr Kaugummi nicht nur, sondern stellen es aus und kauen weiter bei weitgeöffnetem Mund. Die Zahnleisten schnellen von Zeit zu Zeit herunter, Modell Guillotine, die meiste Zeit über bleiben sie aber staunend offen. Die Stadt macht perplex. Das Kleid der Schwangeren hat exakt das Muster der Sitzbankbezüge. Setzt sie sich hin, verschwindet sie wie in tierischer Mimikry. Also will sie sich nicht hinsetzen, aber stehen kann sie auch nicht, schwanger wie sie ist. Also stemmt sie alle Einkaufstüten auf ihren Schoß und sitzt jetzt gekleidet in Tüte.
    Wittenbergplatz. Ein Asiate bringt gebratenen Reis, dampfend im Korb, die Schwangere will sich übergeben. Der Ausdruck in ihrem Gesicht aber heißt nicht Ekel, er heißt Empörung. Der Asiate hinterlässt eine Fried-Rice-Fahne am Nollendorfplatz. Ein Wort pro Blick ringsum: Erstaunen, Verstocktheit, Fassungslosigkeit, Erschöpfung, Nicht-Verstehen, Hochmut, Wissbegierde. Das hübscheste Mädchen drückt im Beisein des zweithübschesten Mädchens nacheinander drei Freier auf dem Handy weg und lacht sie aus. Im Blau der Dämmerung sind draußen die ersten Lichter angegangen. Gleisdreieck. Eine Sologeige im hinteren Teil des Waggons stimmt etwas Virtuoses an. Immer dieses Virtuose! Alle Geiger werden Garrett. Niemand klatscht.
    Mendelssohn-Bartholdy-Park, ein Mädchen schimpft russisch, höhnt, die Lautsprecherstimme, jetzt weiblich, behält die Contenance. Potsdamer Platz. Die Gelangweilten kommen, kunstsonnenbraun. Die Dicke besteht darauf, keine O-Beine zu haben. Sondern X-Beine. Die Hysterikerin mit den aufgerissenen Augen klemmt sich zwischen zwei Dicke und liest einen Stadtführer. So jung wie sie ist, ist sie schon die Ehefrau eines Knaben mit Cannabis-Gesicht, der sich neben ihr um die Stange rankt. Spittelmarkt. Ein vornehmer italienischer Herr mit Stockschirm steigt ein, ruft aber hinaus »cazzate«. Der Stationssprecher erwidert »zurückbleiben bitte«. Ein Vierschrötiger zieht sein Handy wie eine Waffe, schaut auf das Display und erwidert den Anruf mit den Worten: »Ja, wat haste?« Sein grimmiges Gesicht schaut auf den Crêpe-Stand auf dem Bahnsteig. Der Widerwille gegen die Gesprächspartnerin am Telefon weicht dem Appetit auf die Backware am Gleis.
    Die Bahn zwitschert in den Schienen. Die Jungs sind attraktiv verwahrlost, ihre Mädchen Dämchen mit den elegischen Gesichtern von Tragödinnen. Rosa-Luxemburg-Platz: Genuss pur. Gemeint ist Wasser. Die Bahn ist verstummt. Schlüssel klimpern, das Rattern eines Motors im Stehen, sein Vibrieren im Warten, das Grollen der gebremsten Maschine. Der Blick des Schwärmers schweift zu den fremden Frauen im Zug gegenüber, jenen, die man straflos anschauen kann wie die Exponate im Museum. Zurückbleiben bitte! Sein Blick sagt: Zurückweichen bitte. Am nächsten Tag: Zurückschlagen bitte. Die Gouvernante nimmt Haltung an vor ihrem Sitz, lässt sich dann nieder, den Stadtplan mit Lederhandschuhen entfaltend. Ihr Nachbar steht gleich auf mit dem Schwung von »Abgang, Strecksprung, halbe Drehung zum Gerät«.
    Eberswalder Straße. Hier wohnt ein Massai-Restaurant. Ich sehe Eingeborene auf einem Plakat. Große Frisuren auch auf dem Bahnsteig. Ein Zehnjähriger spricht seinem Vater gegenüber dem Nachfolger von Kim Jong Il sein Misstrauen aus: »Der kann das nicht.« In diesem Augenblick sind wir alle schwarz gekleidet im Waggon. Ein Lachen steigt ein, ein unbeherrschtes, zügelloses, über die Köpfe dahinzwitscherndes Lachen. Neurodermitis steigt zu, dann ein Mädchenchor. Der asiatische Künstler mit Ziegenbart distinguiert sich, setzt das Nicht-zugehörig-Gesicht auf. Seine afrikanische Freundin stimmt ein. Ein Teil des Wagens singt »Stille Nacht«, Weihnachten ist längst vorbei. Nach langem Nachdenken klopft die Kleine beim Zeitung lesenden Vater an, um Aufmerksamkeit bittend: »Papa, ich fahre nicht gerne U-Bahn.«
    Am Alexanderplatz tauschen wir die Belegschaft ohnehin fast völlig aus. Gehen wir also. Mind the gap. Auf dem Bahnsteig dreht der Vater den Sohn in die richtige Gehrichtung. Das Mädchen braucht so was nicht. Es niest dafür sechsmal, und die Freundin stellt die Diagnose: »Das ist ein Nasenkrampf.« Ein Mann

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