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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Blatt spielen. Die Frau mit dem Hund, Fels hin oder her, hat nicht übel Lust, sich darauf einzulassen.
    »Und wie willst du mich lieben?«, fragt sie kokett.
    »Erst mal für immer«, antwortet er wahrheitsgemäß.
     
    »Raus mit der Sprache!«, sagt der Freund, und ich stelle sie mir da innen vor, die Sprache als ein Massiv, und rede nicht. Die Gräser am Wegrand neigen sich mit jedem vorbeifahrenden Wagen, und der Staub der Straße liegt auch auf den Blättern über uns, und jetzt beginnt schon die Zeit der Pilze, in der die Bauern zum Schutz gegen die Vipern mit Tabak in den Schuhen über die Wiesen kommen.
    »Wie hier die Zeit vergeht!«
    Und da ich auch jetzt nichts sage, denn die Sprache und die Zeit, die beiden sind auf dieser Landstraße gerade ungegenwärtig, organisiert er einen ungeordneten Rückzug in den Spott. Wir besprechen die Gesichter, denen man nichts zufügen kann, streifen einen Freund, der zwei Tage unter einer spitzen Kapuze verbracht hatte, spotten, boxen uns sogar. Zwischendurch stützen wir uns vor Lachen mit beiden Händen auf die Knie, erschöpft wie nach einem Dauerlauf. Dann macht er wieder sein »Heut-verbums-ich-mein-Gehalt«-Gesicht und wirft die Frage auf:
    »Kannte die Antike den Knutschfleck?«
    Wir kommen bei der Kathedrale von Fiesole an und setzen uns in ein Orgelkonzert. Das Publikum hört nicht recht zu, der Organist hat bloß gut geübt, und der Kinderchor rührt durch vierzig aufgerissene Schnäbel. Trotzdem verlassen wir die Kirche schweigend, spazieren über die nächtlichen Hügel, wortlos in den letzten César Franck eingehüllt, durch die Epoche der Choräle. Aus dem Gebilde des Einen, der wir waren, sind wieder zwei Einzelne geworden, Auseinandergeworfene, die in ihrem Alleinsein stabil, wenn auch bedrückt auf die flimmernd bewegte Stadt zugehen. Die Heiterkeit ist gewichen. Sie ist nicht das Wichtigste. Schließlich haben wir in der Musik nicht sie, sondern die Veränderung eines Zustandes gesucht und ergriffen. Endlich riecht der Weg auch nach Blättern und verborgenen Blüten, und erst als die Straßen breiter werden, reden wir auch wieder, aber abwesend und unreif wie junge Dichter, die immer gleich mit dem Spätwerk beginnen wollen.
     
    An den Abenden geht in Catania ein Hauch über die Stadt, das ist der Atem Afrikas. Hoch über der Gasse schaukeln dann die Laternen, und es ist wie ein Kerzenflackern, das die Straßen erst jetzt entzündet. Aus dem gelben Licht der Gasse taucht man in das grüne Neonlicht der Trattoria. Einzelne Herren sitzen an Tischen so klein, als habe man sie nur für Einzelne hingestellt. Alle essen vor sich hin. Manche führen mit einer Hand die Gabel, während sie mit der anderen in einer Illustrierten blättern. Nur selten fällt ein Wort. Ist es ein Scherz, ist er für alle. Ist es eine Anweisung, gilt sie dem Kellner, einem Barsch, der mit hängendem Schnauzbart zwischen den Tischchen schwimmt.
    Manchmal lacht er abrupt, sogar höhnisch, wie in einer wegwerfenden Geste sich selbst gegenüber. Wie kann man ihm, ausgerechnet ihm gegenüber, höflich sein! Will er zum Essen ermuntern, was verschiedentlich nötig ist, so wischen seine blassen Lider über den hellen Augen auf und nieder. Was ein Zwinkern andeuten soll, ist eine grässliche Koketterie, die er selbst sofort mit einem lautlosen Lachen quittiert. Findet er auf dem Teller schließlich einen zurückgelassenen Essensrest oder bloß eine Öllache, die nicht mit dem Weißbrot aufgenommen wurde, so steigt durch seinen Blick etwas unendlich Trauriges, und mit dem Pathos eines Menschen, der geduldig großes Unrecht zu ertragen bereit ist, schleppt er leise solche gezeichneten Teller hinaus.
    Gezeichnet auch er. Man ist versucht, sich beim nächsten Gang den Magen zu verderben, um seinem fleckigen Gesicht nicht wieder dieses Weh anzutun. Findet er zuletzt auf einer weißen Untertasse extra für ihn zurückgelassenes Geld, so lacht er gleich wieder sein ungezogenes Lachen, fällt wie geschlagen in Richtung Tür und reißt sie auf mit einem Gesicht, als öffne er seinem Glück die Tür zu ander Leuts Leben und werde selbst nie wieder so froh sein. Wer sich dann noch einmal nach ihm umdreht, kann sehen, wie die Mimik in sich zusammenfällt. Seine Theatralik ist Ausdruck einer in jahrelanger Routine still grotesk gewordenen Praxis, die höflich wirkte, als er jung war und die jetzt das Fratzenhafte seines Alters angenommen hat.
    Ich werde ihm etwas Schönes sagen. Alles für die Luft,

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