Momentum
Sonnenbrille und redete vom Boxen. Mit den meisten Dingen des Lebens, bis auf das Essen, war er nicht einverstanden. Auch das Boxen kam ihm heutzutage verweichlicht und akademisch vor. Verweichlicht war an ihm selbst nicht einmal der Gestus, mit dem er das Baguette brach. Die Gäste im Rund des Tisches schnatterten los.
Die junge Frau zu meiner Linken hat ein hübsches Frettchengesicht und Brandwunden an den Händen. Ihren Lippenstift, rotmetallic, hat sie ein wenig über die Ufer treten lassen, damit der Mund üppiger wirke. Von Natur aus üppig ist nichts an ihr, sie ist von ökonomisch konzipierter Hübschheit.
Der ehemalige Halbweltler an ihrer Seite redet milieuschlau daher, und weil ich ihre unverhohlene Straßenköterwitterung gerne mag und mit dem Mädchen lache, legt sie mir mehrmals die Hand auf den Handrücken, was der Mann an ihrer Seite erst goutiert, dann missbilligt. Aber wenn sie lachen muss, greift sie immer wieder nach meiner Hand, wie um sich festzuhalten. Sie ist eine Büglerin, sagt sie, besitzt mehrere Bügelsalons, beschäftigt andere Büglerinnen und dürfe sich deshalb als selbständige Geschäftsfrau verstehen. Als ihr Begleiter zur Toilette geht, reißt sie ein Blatt aus meinem Notizbuch, kritzelt ein paar Worte darauf und lässt sie in meiner Jackentasche verschwinden. Auf dem Fetzen, den ich unter dem Tisch entfalte, steht: »Nimm mich mit.«
Als Stunden später die Rechnung kommt, wirft der Halbweltmann bloß einen Blick darauf, dann lässt er sie zurückgehen mit den Worten: »Ziehen wir vom Schutzgeld ab.« Wir treten auf die Straße. Die Vögel haben schon begonnen zu singen, die versprengte Gesellschaft weiß nicht recht weiter, man legt den Kopf in den Nacken, einige stehen noch an der Garderobe. Da schlüpft die kleine Büglerin auf die Rückbank meines Taxis, und wir fahren der Gesellschaft davon.
Nach wenigen Metern Fahrt kurbelt sie das Fenster herunter, streckt ihre Beine auf die Höhe der Rückenlehne, hebt den Rock und löst die Strumpfhalter, um mit flachen Händen die Seidenstrümpfe, einen nach dem anderen, herabzurollen. Gelenkig wie sie ist, zieht sie sich am ausgestreckten Bein alles von der Fußspitze. Dann wirft sie die Strümpfe zum Fenster hinaus in den dämmernden Morgen, begleitet von einem Fluch für den düpierten Mann, der sie für diesen Abend gebucht und ihr vorher Leibwäsche zur Ausstattung gekauft habe. Ihre Beine lässt sie so ausgestreckt liegen. Sie sind jetzt herrenlos, die glatten, stämmigen Beine einer Büglerin, die auch eine selbständige Geschäftsfrau ist. Die frische Luft des frühen Morgens streift über sie dahin, und zufrieden wirft sie den Kopf in den Nacken, während ihre kleine dralle Hand mit den Brandwunden mitten in meinen Schoß greift, als sie sagt:
»So, und jetzt werden wir erst mal deinen Körper los!«
Eine Frau von hoher Dringlichkeit im Ton, attraktiv ungekämmt und mit einer Mixtur der verschiedensten folkloristischen Tücher um Hals und Rumpf, zieht mich in diesem ganz auf arkadische Schänke gemachten italienischen Restaurant an den Tisch mit dem »Reserviert«-Schild, wo sie in bronzener Bräune, duftend, mit der Bereitschaft, eines Tages füllig zu werden, ihren Mantel, der nach Zigarette riecht, auf den Nachbarstuhl schleudert, sich die Haare hochsteckt, damit ich ihren Bizeps sehen kann, und in großer Geschwindigkeit von einem Gärtner erzählt, der Tarcisio heißt, und von einem Beduinen-Diplomaten im Speisewagen, den sie belogen hat wie immer, von einem Gewitter, das das Dach gespalten hatte, von der Jugoslawin in der Herrentoilette, von einem Begräbnis, bei dem ihrer Meinung nach ein leerer Sarg ins Erdreich gesenkt wurde. Alle diese Geschichten kommen, lose verbunden, in ihr zusammenlaufend, direkt aus ihrem rhetorischen Kraftwerk, und ich lehne mich innerlich zurück, und sie fahren vorbei wie beschriftete Waggons, die metallisch auf die Gleise schlagen. Sie sagt jetzt, dass sie in Unterwäsche aus dem See gelaufen war, auf das Haus zu, um jetzt zu schreiben, frisch und vorbereitet, aber dann waren die Worte bloß wie Köttel gekommen, wie die Losung der Rehe vor der Schonung. Aber warm und angeregt wie sie war, hatte sie gesagt: Jetzt nur zu, irgendein Satz wird sich schon verfolgen lassen, und einmal am Tisch, verkleinerte sich alles, und sie sank darüber zusammen und schaute abwärts wie auf einer Fotografie, die ihr Vater damals auf Capri von ihrer Mutter, als sie noch verliebt waren, und was war
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