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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Sommer, nimmt Abidjan plötzlich Haltung an. Alles bewegt sich in eine Richtung, dem Stadion zu, wo seit den Morgenstunden aus weitem Umkreis Fußballfans zum Spitzenspiel der Liga eintreffen: Die »Mimosen« gegen die »Adler«. Wer keinen Platz bekommt, zieht in Kreisen um das Stadion oder hängt im Fenster benachbarter Häuser. Alles schreit, alles feiert, Prostituierte kobern Freier an, Schwarzhändler wedeln mit Ticketbündeln, Schilder warnen: »Wer trinkt, fliegt raus.« Ismail, der Stillste unter den Kaffeemaklern, verkauft die Stadionzeitung singend. Die Stadt hat ihren Rhythmus gefunden.
    Rund um das Spielfeld brodelt die Arena. Der Platz ist ein begrünter Acker, auf dem die »Adler« mühsam niedergerungen werden. Am Ende hat auch der Anschlusstreffer von Okolossi nicht mehr geholfen, es triumphieren die favorisierten »Mimosen«. Wirklich verloren aber hat wieder einmal der Schiedsrichter, der von den Rängen mit Dosen beworfen wird und sich deshalb bis lange nach dem Abpfiff mit seinen Assistenten im sicheren Mittelkreis verschanzt. Dann begleiten ihn vierzig hochgerüstete Polizisten auf dem Weg in die Kabine, und die einzige weiße Frau im Stadion steigt neben mir auf die Bank, schreit, die Faust in den Himmel reckend wie die Freiheit, die das Volk anführt:
    »Aveugle!«
    Und der müde Blick des Mannes hebt sich wirklich zur Tribüne, als wolle er sagen: »Auch du.«
     
    Das große Behagen der Fläche: die Badenden an diesem Strand sind lose verteilt, ein paar Abgelegte, ein paar Torsi, die unregelmäßig aus dem flachen Wasser ragen, gemächliche Armzüge absolvieren zwischen den Wellenbrechern, schließlich zusammensacken im Sand – eine Bewegung wie das Schreiten der Kamele in der Steppe, träge wie die Heimkehrer, die über die afrikanischen Wüstendünen kommen, als kämen sie zu sich: ausgestreute Menschen.
     
    In ein Bild eintreten, in dem sich alle Anschauung zum Begriff verdichtet: Kein Bild Afrikas hat sich mir so eindringlich und permanent eingeprägt wie das der Staubstraße, keine Straße, ein Weg eher, auf dem Menschen allein, mit Tieren, Hand in Hand als Paare und Gruppen in die Ferne wandern, angezogen von dieser Ferne. Man sieht Lasten tragende Esel, Ziegenherden, hinter denen ein Junge mit seiner Gerte läuft, Rinder mit wuchtig geschwungenen Hörnern. Erst auf den zweiten Blick erkennt man auch die Hütten hinter den Zäunen, sogar solche auf einem Sockel aus geklopftem Lehm, solche aus Adobe-Ziegeln. Im Innern liegen rote Zwiebeln, Kartoffeln zu kleinen Pyramiden aufgehäuft. Eine staubgesättigte Hitze lastet über dem Bild, die sich im Beigebraun des hellen Himmels verliert.
    Es gibt in diesem Moment kaum zielgerichtete, zweckorientierte Handlungen, eher Zustände. Selbst die Kinder, die vom Straßenrand mit einem Büschel Gemüse winken, tun es wie um des Bildes willen. Vielleicht haben sie nie einen Wagen zum Stehen gebracht, aber ihrer Scharade sind sie treu geblieben. Sie wedeln und sacken zusammen, sobald der Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit auf ihrer Höhe ist. Das Wageninnere haben sie für Sekunden gesehen – zwei Zustände überkreuzen sich, Menschen tauschen für Augenblicke die Rollen, und »Ja«, sagt der Fahrer großspurig, »dieses Volk hat das ganze Potential, das Land zu verändern.«
     
    Gabeynesh, die Tochter eines äthiopischen Dichters, hat auch im Exil den Habitus bewahrt, der den Abessiniern das Prädikat der »african arrogance« eintrug, nein, sie hat ihn erst richtig veredelt. Wenn sie eine Wespe verscheucht, tut sie es mit einer langsamen, graziösen Geste von einiger Müdigkeit, und ihr Gesicht nimmt erst verspätet, wenn die Wespe schon über alle Berge ist, eine Haltung von Missbilligung ein. Diese Langsamkeit der Bewegung findet man in der Gestik, im Schritt, in der Wortwahl, sie ist aber ohne Manieriertheit. Gabeynesh sucht jedes Wort, als sei es versteckt, sie meidet jedes indezente, und als sie mir erklären will, dass die Äthiopier »Klo« nicht aussprechen, spricht sie es nicht aus, findet aber auch kein Synonym, das sich aussprechen ließe, nur eine Pause wie ein Loch.
    Sie sieht mich selten an, und wenn, dann wie um sich zum Reden zu motivieren. Fast immer friert sie im Freien, über ihren Arm läuft dann eine Gänsehaut. Trotzdem bleibt Gabeynesh da draußen stehen, um sich an die Kälte zu gewöhnen. Im Sommer schillert die Sonne in den vier Impfnarben ihres Oberarms. Sie ist völlig arglos, beobachtet aber genau. Wenn sie

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