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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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das noch, was ich schreiben wollte, sagt sie, etwas auf »…ation« oder »…ihrung« jedenfalls, aber »isjaauchegal« kommt stattdessen, und das ist das Scharnier, in dem die Rede sich jetzt dreht, »isjaauchegal«, und ich drehe mich mit darin, das Gesicht vom Strom der Rede geschaukelt. »Ich war in Australien«, sagt sie gerade. »Ich hab da mehrere Erfahrungen erlebt. Ich wurde im Fernsehen ausgestrahlt.«
     
    Ihre beunruhigten, asiatisch geschnittenen Augen hinter der geschlossenen Zugtür schwimmen plötzlich im Wasser, was sie geniert, so dass sie abwärts, dann geradeaus, dann in den Bahnhof, dann verletzt in mein Gesicht schaut, ehe sie abrupt, die Klinke mehrfach auf und nieder drückend und das eigene Gewicht gegen die Tür werfend, noch einmal auf den Tritt steigt, sich zwei Tränen von den Wangen wischen lässt und sagt:
    »Weißt du, was ich geträumt habe: Ich sollte einem Freund einen Nagel in den Fuß schlagen.«
     
    Eine Frau am morgendlichen Kiosk, laut, übertrieben, vielleicht auch bloß überschwänglich. Als sie weg ist, sage ich:
    »Na, die ist ja um diese Stunde schon hellwach.«
    »Ja«, sagt die Kioskbesitzerin, »sie hat einen behinderten Sohn zu Hause. Da hat sie sich angewöhnt, so überdeutlich zu reden.«
     
    Ein Kleinkind, eingenäht in eine Art Küchenhandtuch, stapft schreiend durch den kiesbestreuten Hof des Hotels. Erst als sich der Koloss am Nebentisch verschluckt, watschelt es hin, bleibt, aufgestützt auf den Tisch, betrachtend stehen, fasziniert, wie der riesige bärtige Körper mit dem Busch im Hemdausschnitt schaukelt und würgt. Er findet nicht Atem genug, um das Kind zu kommentieren oder wegzuschicken, würgt, schluckt, trinkt, wedelt durch die Luft. Das Kind ist ganz Betrachtung. Sein Blick ist von vollendeter moralischer Indifferenz. In diesem Blick treffen sich nach und nach die umsitzenden Gäste.
     
    Auf vulkanischen Inseln, heißt es, träumt man stark. Am Nachmittag setzt sich eine lebenslustige Frau an meinen Tisch, der ich vor langer Zeit einmal begegnet war, an ihrer Seite ein Begleiter, der, wie sie mir, als er in den Waschräumen ist, flüstert, nach zwölf Jahren gesagt hat: Noch ein Fehltritt, und ich bin weg. Was soll sie machen, sie liebt die Liebe nun mal, vor allem, wenn sie neu ist. Und in aller Liebe feiert sie das Geschenk des Lebens. Vor zwei Jahren, erzählt sie in Hochgeschwindigkeit, war sie mit starken Unterleibsschmerzen nach Jamaika gefahren, erwartete im strömenden Regen unter dem Portal der Kathedrale eine sagenumwobene Heilerin. Bei der legt sie sich auf den Tisch. Die Frau greift ihr durch die Bauchdecke in den Leib, zieht ein Fläschchen mit schwarzer Flüssigkeit heraus, Narben entstehen, verheilen. Später sagt ein Arzt: Sie waren mal sehr krank. Die Schmerzen kehren nie wieder. Sie liebt das Leben jetzt mehr und anders und die Liebe sowieso. Sie lacht.
    Als der Begleiter zurückgekehrt ist, sagt sie:
    »Ein bisschen Transzendenz bewahrt man sich am besten für Zeiten auf, in denen man sie braucht, nicht Schatz?« Und fällt ihm um den Hals.
    Der Düpierte, oft Gehörnte zuckt fatalistisch die Achseln, blickt sie an wie ein Stück Bauland und erwidert:
    »Tja, Transzendenz, ist mal was anderes.«
     
    Im Lokal wirbt ein Südländer um eine Frau mit Hund. Während seine Hand die ihre sucht, schreit die Frau den Hund an:
    »Aus! Ich sach aus!«
    Die Frau am Nebentisch beugt sich zu ihrem Begleiter:
    »Das Schlimme ist, die Italiener haben keine Selbstachtung …« Pause. »Und was noch schlimmer ist: Sie brauchen sie nicht mal.« Pause. »Weißt schon.«
    Nicken. In Hörweite trägt die Frau mit Hund ihre Gänsehaut zu Markte. Sie sagt, sie sehne sich nach einem »Fels in der Brandung«.
    »Ich bin kein Fels in der Brandung«, sagt der Südländer. »Ich bin die Brandung.«
    »Was hat das mit Liebe zu tun?«, will die Frau wissen. Sie denkt flüssig, flüssiger als er.
    »Liebe?«, fragt der Südländer, dessen Gesicht man diese gerade nicht zutraut. »Liebe, da bin ich nicht schlecht, das kann ich seit Kindertagen. Da bin ich ein Blitzmerker.«
    Seine Vokabeln sitzen nicht, er ist Ausländer. Sein Deutsch hat er von früheren Frauen. Man hört es deshalb noch deutlicher durch: In seiner Routine bietet er allen Frauen, die kommen, den gleichen Abend an, den er sich schön ausgemalt hat. Mit jeder will er genau diesen Abend verbringen, der so schon existierte, bevor sie existierten, das fühlen sie. Er könnte diesen Abend vom

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