Momentum
werden meine Familie kennenlernen«, sagt der nervöse kleine Mann und pfeift den Söhnen. Sie schlendern aus den hinteren Gemächern heran, hochgewachsene, zentnerschwere Halbwüchsige von zwölf und vierzehn Jahren, die, bald doppelt so groß wie er, jetzt verlegen dastehen, nicht wissen, wohin mit den Händen und kalbsköpfig die Blicke der nächtlichen Besucher meiden.
Die Gattin kommt wenig später hinzu. Sie ist die wahre Mutter der Söhne, kolossal auch sie, von tiefer, bärbeißiger Güte. Sie führt uns herum. Jedes Zimmer, sagt sie, besitzt ein eigenes Blütenaroma. Die fetten Knaben wohnen in Azalee und Magnolie, die Mutter residiert in Jasmin. An der Haustür machen sich die Töchter bemerkbar, heimgekehrt aus der Nacht von Amman – schmale Hüninnen mit schwarzgezeichneten Zügen, erschütternd schön und durchlässig, bewegt und unironisch in ihrem Respekt.
Wir lassen uns in die Sitzgruppe sinken, trinken den Kaffee schwarz, der Vater prunkt mit seinen Kindern, den gewichtigen Söhnen, den filigranen Töchtern. Ehefrau und Ehemann blicken sich an mit der Wärme von Komplizen. Auf dem Höhepunkt der Eloge kündigt er einen letzten Coup an: Jetzt wird einer der Söhne für uns musizieren. Der Ältere zieht einen Flunsch und verschwindet. Man lässt es ihm durchgehen. Der Jüngere zieht auch einen Flunsch und will entweichen, aber es hilft ihm alles nichts: »Hol dein Instrument!« Was wird er spielen? Eine Anzad, eine Pferdekopfgeige, eine Mortar-Trommel, eine Tahardent, eine Kerblaute, eine Robab?
Als der kolossale Junge jedoch wieder im Türrahmen steht, trägt er das unwahrscheinlichste Instrument im Arm, das man in einer Nacht in Amman erwartet: einen schottischen Dudelsack. Und nachdem er erst sich selbst, dann den Sack aufgeblasen und schon Minuten lang gespielt hat, identifizieren wir im Kreischen und Zirpen allmählich, was er da spielt: die unwahrscheinlichste Musik, den Titel aus »Der Pate Teil 2 «, hervorgebracht unter Presswehen. Er trifft kaum einen einzigen Ton und ist nach der Reprise des Themas so erschöpft, dass er sich setzen muss. Die Eltern aber haben sich sanft wiegend dem Stolz über dieses monströse Geheul überlassen und glühen noch nach, während sich der Junge entfernt wie eine getretene Kreatur. In der Euphorie über dies außergewöhnliche Musikerlebnis suchen wir das Weite. Die Mädchen winken mit schmalen blassen Händen hinter und über ihrem Vater hervor, der zum Abschied im Türrahmen steht und spricht:
»Ihr werdet nach Jordanien zurückkehren und finden, was ihr sucht, einen Freund, einen Bruder, einen Vater, einen Beistand, was ihr wollt: mich!«
In einer afrikanischen Bucht erwache ich unter einem verhangenen, gar nicht afrikanischen Himmel. Aus den geöffneten Klassenzimmerfenstern singen die Kinder zum Nationalfeiertag, das Nörgeln des Muezzins vom Minarett fällt ein, aber auch eine Kirchenglocke ist hörbar. »Der große Derdiedas« wird angesungen. Ich sitze reglos und denke, was für eine schweigsame Religion du vertrittst. Im Kindesalter ein bisschen Geißelei im Doctor-Martini-Lutheri-Stil, Chorgesang, schlechtes Gewissen und Frevelei. Dann hast du aus Glaubensgründen jedenfalls keinen Krach mehr gemacht. Immer diese Ruhe, als lägest du im Mutterleib und hörtest den fernen Gewittern zu.
Die Sonne steht nur auf einzelnen beigegelben und rosa Häuserwänden, aber nicht am Himmel. Jungen ziehen einen toten Fisch an einem Faden hinter sich durch den Sand, mit dem sie etwas anlocken wollen. Ein Alter mit einem Wald weißer Haare, die auch aus den Ohren treten wie Holzwolle aus einem Teddy, geht unter dem Fenster vorbei und sagt: »Eines Tages holt die Natur sich alles zurück.« Dann schlurft er weiter, als gehe er voran.
Abidjan hat bessere Zeiten gesehen. Die Fassaden der Prachtbauten schimmeln oder werfen Blasen, Einschusslöcher haben die Glasportale durchschlagen. Die Bürgersteige haben sich abgesenkt, man blickt wieder direkt in die Kanalisation. Der internationale Kaffeepreis ist auf dem Tiefstand, also kauft die Regierung die nationale Produktion auf und bunkert. In den Hotels sitzen Makler, ziehen jeden Morgen aus, um irgendjemanden im Zollamt zu bestechen und ein paar Tonnen aus dem großen Vorrat abzuzweigen. Meist erfolglos. Ja, sie war einmal vielversprechend, diese Stadt. Seit Tagen trinke ich den ersten Kaffee des Tages und einen nächtlichen Wein an der Hotelbar unter den Kaffeemaklern.
Aber dann, an einem Samstag im
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