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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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etwas wie: »Sie sind ein Gentleman vom Scheitel bis zur Seele.« Er wird den Kopf senken als ein Pater doloroso, danken, und sein Gesicht um das Wort »Problembewusstsein« herum organisieren und sagen: »Danke vielmals, bitte höflichst.«
     
    Um zehn Uhr abends setzt die Maschine in Casablanca auf. Es ist kurz vor Weihnachten, aber warm nach einem Tag des Regens. Der Fahrer des alten grün-weißen Mercedes W 108 mit den durchgesessenen Kunstledersitzen sagt: nein, nicht drei, sondern fünf Stunden seien es bis Essaouira, der alten Hafenstadt auf der in den Atlantik ragenden Landzunge. Ich strecke mich hinten aus, die Luft von draußen riecht nach Muskatnüssen. Einmal kommt ein Spielmannszug, die Musiker sämtlich in roten Westen, durch den strömenden Regen. Einmal stürzt ein strohgelber Papierdrachen durch den Nachthimmel und hebt sich gleich wieder in die Höhe, elegant wie die Flugbahn eines Gibbons zwischen zwei Zweigen.
    An einer Dorfstraße hält der Fahrer lange nach Mitternacht bei einem lebendigen Nachtmarkt mit Metzgereien, Ständen voller Südfrüchte, Autozubehör, buntem Plastikgeschirr für die Küche. Wir überspringen die Pfützen im Kies auf dem Weg zu dem offenen Lokal, spucken Olivenkerne in den Sand und trinken schweigend schwarzen Kaffee.
    Nebenan packt sich der Metzger eine Rinderhälfte. Sie ist so schwer, dass sie in seinen Armen mit dem Phlegma eines strauchelnden Pyknikers plump zu Boden geht. Der Metzger, der dem Rind eben noch die Halsschlagader geöffnet, es gehäutet und geteilt hat, beugt sich jetzt als ein Samariter, hebt die Körperhälfte, umarmt sie erneut und trägt sie über die nasse Straße fort, strauchelnd, denn er wird fast von ihr erschlagen. Es ist wie der Tanz zweier, die sich nicht einigen können, wer führt.
    Am nächsten Tag dringt der Sirenenton des Muezzins in den einsetzenden Regen, dann lamentiert das Schimpfen des Klempners in dessen Singsang hinein, weil sich das Klo nicht am Boden fixieren lässt. Katzen steigen aufgereiht, vier hintereinander, über die Dächer, schreiend wie Babys vor Lust. Eine alte Frau wird nachts vor der Tür erschienen sein, ich werde mit Kindern auf der Uferpromenade mit der Aussicht auf den Offshore-Windpark in der Bucht Fußball gespielt haben, und doch wird später das Verweilen im Transit des Nachtmarkts, dies dezentrale, aus der Mitte herauslaufende Leben das Wirklichste der Reise gewesen sein.
     
    Den Tag hatten wir in der Kanzlei eines Menschenrechtsanwalts in Amman zugebracht. Ein nervöser Mann in einem billigen kleinen Büro in der ersten Etage eines Wohnkomplexes. Die Sessel aus rotem Alcantara, abgeschabt, einer mit eingerissener Sitzfläche. Eine Zimmerpalme, kein Empfangsbereich, ein abgelaufener Kalender an der Wand mit einem Foto von Berchtesgaden. Selbst am Tag brennt das Licht, das aus Neonröhren dringt, gelb-grünes Streulicht. Der Anwalt, schmal und wieselflink, agiert überzeugend für seine Mandanten, vergisst dabei aber den eigenen Vorteil nicht. Als wir die Kanzlei verlassen, wirkt er desorientiert. Vermutlich ist dies nicht seine Kanzlei, ist gar keine Kanzlei, sondern ein Büro, das man mietet, wenn man eine verdeckte Adresse braucht. Er führt uns zum Essen. Die Speisen wählt er aus der Vitrine für alle, davon versteht er was. Auf den Platten klappern Schalentiere, die aus fleischigen, dickschaligen Zitronen besprenkelt werden.
    Im Anschluss an die Mahlzeit, es ist jetzt bald Mitternacht, lädt er Nina und mich zu sich nach Hause auf einen Kaffee. Dem Sozialstatus der Mandanten, dem Büro, der Volksküche dieses Restaurants nach zu urteilen, wird sein Zuhause einer jener ärmlichen Mietsblöcke am Stadtrand sein, in dem er mit seiner Frau und den vier Kindern lebt. Doch gleiten wir mit dem Wagen durch die Spaliere der Wohnsilos hindurch, bis hinaus in die Dezenz der Villengegend, wo das Garagentor der Fernbedienung gehorcht.
    Das Vestibül des Hauses, das er uns öffnet, ist aus Marmor und die Wohnung, in die wir eintreten, dreihundert Quadratmeter groß, behängt mit Wandteppichen, ausstaffiert mit brokat-bezogenen Polstermöbeln, Ölschinken, vergoldeten Statuen, einem Zimmerspringbrunnen, arrangierten Stillleben. Im nächsten Zimmer warten Plastiktulpen in Amphoren, arabische Lederbänkchen, Gebetsteppiche, Arbeiten aus Steinintarsien und Majolika, Suren auf Emailleplatten rings um den laufenden Fernseher zwischen leeren Vasen und den orangefarbenen Rücken von Penguin-Taschenbüchern.
    »Sie

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