Momentum
im Begehren vor allem die große Mangelerscheinung heraus, eine einzige Grimasse der Entbehrung.
»Dein Gesicht ist aber auch Moll«, sage ich.
Irgendwo auf der Welt, in einem Wald. Das Bild der Ferne schlägt man auf wie eine Partitur. Im Halbdunkel der spät einbrechenden Nacht ausgestreckt auf dem zu kurzen Lager unter freiem Himmel, versuche ich mich zum Zug der Wolken auf die Geräusche zu reduzieren. Die Bemühung zielt darauf, sich im Geist nicht zu entfernen, sondern alles Hörbare, Wahrnehmbare in dieselbe Distanz zu stellen, so dass ein Gewebe entsteht, das mich einhüllt wie ein Kleid. Das Rattern eines fernen Triebwerks im Rauschen der Stadt, ein schleifend über die regennasse Straße herankommendes Auto, darüber ein Signal aus drei Tönen, ein Wind, der sich mal einmischt, mal wegduckt, ein allgemeines Wehen, erst in den Bäumen, dann im hohlen Fenster der ersten Hütte, in der Fensterflügelbrechung, das silberne Zittern der Uhr, eine Haustür. Diese Wohlempfindung schwingt, alles stimmt sich in eine Ordnung. Jedes Geräusch definiert sie, jedes löscht sie für einen Augenblick. Dann treten die Pläne, die Gesichter, die Aufträge durch den Spiegel des Bewusstseins. Dann stehen und verblassen auch sie. Das Wolkensfumato treibt über sie dahin. Nichts passiert wirklich. Nur gibt und nimmt die Entfernung und lässt sich nicht abstellen. Welche Bedeutung hatte dies Signal? Wer tritt durch die Tür? Und morgen?
Eine Frau steigt in die U-Bahn, angezogen wie eine Automobilistin aus den Zwanzigern mit Fellmütze und Rallye-Handschuhen. In ihrer Miene macht sich die leidgebremste Erkenntnis breit, dass sie kein Ereignis ist für diese Bahn. Du bist auch untergegangen, denke ich. Dich nannte man ehemals eine »Frau von Welt«. Heute gibt es dich nicht mehr und nicht den »Mann von Welt«, der sich länger hielt. Einmal hörte ich einen enttäuschten Toyboy sagen:
»Ich lebe mit einer klassischen Frau von heute. Es funktioniert nicht. Als Nächste nehme ich eine Frau von morgen.«
Alle sind untergegangen und doch noch da, aber so, als könnten sie sich – wie alles im Vorgang der Dekadenz – noch einmal, mitten im Fall, entfalten und schön sein wie eine Perle, die im Bauch der kranken Auster ruht. Aus ihrer Umhängetasche zieht die Frau ein populär gestaltetes Buch, auf dem Cover eine Blondine, eine Pygmäin, Schirmakazien und die Wüstensonne, darunter der Titel »Ich folgte den Trommeln der Kalahari«. Genau.
Wie beschreibt man das Gebäude, vor dem ich sitze? Das Vergrößerungsglas auf Dinge richten, deren Natur es ist, zu verschwinden, eine Perspektive finden wie vor dem Sterben: Fassen, was fassbar ist. Da ist ein Vogel in der Luft, der die Richtung ändert – wie es scheint aus Überschwang.
Ich suche das Gebäude, doch nichtssagend bleibt es. Als ich den Giebel isoliere, sehe ich mich im Internat auf dem Dachfirst sitzen und Krabben schälen. Als ich mich auf das schmale Seitenfenster konzentriere, rührt die Nachbarin in ihrem Topf und schmeckt ab mit dem breiten Löffel. Jedes scharf gesehene Detail wird mir unscharf, weil ich es nur historisch sehen kann. Eine Angestellte tritt aus dem Portal. Die Wirklichkeit dieses Gebäudes wird ihr Gesicht sein, als ich sie frage:
»Könnten Sie mich bitte mal unscharf fotografieren?«
Greta liest Julien Greens verdüsterten »Leviathan« im Garten ihres Sommerhauses auf einer Ferieninsel. Während sie sich durch die Schatten dieses Romans bewegt, ist sie auf dem mit Päonien bedruckten Liegestuhl bäuchlings hingestreckt, ohne Bikini-Oberteil, die eleganten braunen Beine gespreizt, während aus dem Wohnzimmer ein Zusammenschnitt der schönsten Opernarien von Maria Callas dringt. Sie hebt erst den Kopf, dann den Oberkörper so weit, dass ihre Brüste sich aus den Päonien lösen, schiebt die Sonnenbrille mit dem Zeigefinger abwärts und näselt:
»Ich weiß nicht, da kann ich noch nicht so richtig mit warm werden, mit dieser Vorstadtidylle.«
Nachts klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung sagt eine Stimme flüsternd: »tick tack tick tack …«
»Warum nennst du mich rührend?«, fragt sie mit einem Unterton von Ereiferung.
»Lass doch«, sage ich, »was mich nicht rühren kann, ist mir gleichgültig.«
»Aber was soll denn rührend an mir sein?«
»Dieses hochsitzende Fältchen auf deiner rechten Wange zum Beispiel«, sage ich, ohne es anzusehen, »dieses nur Millimeter lange Fältchen«, sage ich, immer
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