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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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noch ohne hinzusehen, »das ist dein ›Für Elise‹.«
    Sie geht zum Spiegel: »Stimmt, da ist so ein Fältchen. Und das soll rührend sein?«
    Sie möchte es wegmassieren.
    »Wäre es dir unangenehm, wenn ich es mal berühren würde?«, frage ich.
    »Ja, wäre es, aber mach es trotzdem.«
    Als mein Zeigefinger dort entlangfährt, fühlt er nicht die Haut, sondern den Widerstand. Das Fältchen wird dadurch nicht weniger rührend.
    »Du bist schon ein komischer Vogel«, sagt sie, als müsse man das sein, um sie berühren zu wollen. »Ich schau mal nach meinem Kind.«
    Sie steht auf und wird, während sie im Nebenzimmer zum Kindchen in seinem Winterschlaf spricht, wieder Frau ohne Fältchen.
     
    Sie, die ihrem Vater nie genügte, genügt ihm immer noch nicht. Das ist das Kind, das nicht zerstört werden konnte. So isst sie selbst in der Winternacht einen viel zu großen Eisbecher mit Eierlikör. Ihr Gesicht reagiert immer noch auf Autorität. So steht sie im Schneegestöber und fischt mit dem Fäustling nach der einen zu schnell fliegenden Flocke, die gerade frontal ihr Gesicht ansteuert. Als dieser Geste wegen irrtümlicherweise ein Taxi anhält, besteigt sie es, obwohl sie es gar nicht wollte, winkt mir aber gleich darauf zu, als wolle sie noch immer die Schneeflocke aus der Luft wischen. Sie agiert vor einer unsichtbaren Kulisse, getrieben von indirekten Impulsen, Übersprungshandlungen, und ihr Gesichtsausdruck hat sich in diesem Wirrwarr in die Sicherheit hinter dem Lachen zurückgezogen.
     
    Ich komme nachts zurück in das ärmliche Hotel und finde den Nachtportier, einen aussortierten Lebemann, über einer Illustrierten. Sein Kopf hängt lange über jeder einzelnen Seite. Die Frauenbesitzer zeigen sich hier von ihrer stolzesten Seite, und die Eheprostituierten danken es ihnen mit effektvoller Zuwendung.
    Der Portier gesteht, dass er sich »zu seiner Zeit« gerne bei den schönen Frauen aufhielt. Ich höre nicht recht zu, bis er sagt:
    »Es waren nie die Hübschen, nie waren es die Hübschen, die mich verrückt gemacht haben. Es waren immer die anderen.«
    Ich habe mir einen Stuhl genommen. Es ist gut. Es ist Nacht. Der Alte redet von der Vergangenheit, von »seiner Zeit«.
    »Eine schöne Zeit. Die Kindheit war noch nicht erfunden. Warten Sie.«
    Er fischt aus einem Pappkarton ein Foto von Schulkindern aus den frühen Vierzigern mit ihren gescheitelten Köpfen und gebadeten Physiognomien, frisch aus dem Dritten Reich geschlüpft, und er schwebt mit dem Finger über den Gesichtern und fragt:
    »Moment, wer bin ich?«
    Das fragen wir uns gerade beide.
     
    Nachts im Hotel. Ich saß noch am Tisch, las und schrieb. Sie lag schon im Bett mit Sonnenbrand und Erschöpfung. Nach kurzer Zeit hebt und senkt sich die Bettdecke auf ihren Schultern. Wie die Dünung des Meeres. Schöne Schultern. Sie betrachtend, denke ich, dass es die Müdigkeit war, die sich heute zwischen uns stellte, nur die Müdigkeit. Und doch. Es fühlt sich an, als schwimme sie hinaus, von mir weg, und ich bin zurückgelassen, vielleicht schon aufgegeben. Ich dehne die Arbeit künstlich aus, drehe mich mehrmals zum Bild ihrer Schultern um, ringe mich durch zum Alleinsein.
    Dann setze ich mich im Dunkel des Vorraums auf einen Stuhl. Das amputierte Gefühl der Entbehrung dehnt sich. Von außen dringt nun leise eine mühselig gewundene Melodie, vorgetragen von einem Waldhorn, eine menschliche Stimme dazu. Im verlassenen Zimmer glüht noch die Tischlampe. Unberührt auch das Weinglas. Ich stelle mir die Fortsetzung ihres vertrauten Körpers unter der Decke vor, sein Selbstgefühl im Schlaf. Wie ich sie in der Brandung betrachtete. Sie würde nach Sonne riechen, nach Sand und Sonnenöl, denn vom Meer kommend, hätte sie sich in ihrer Erschöpfung nicht mehr geduscht. Dann rieche ich das Sonnenöl, höre, wie ihre Stimme im Schlaf mit mir spricht, dann, wie sie seufzend die Decke rafft. Es wurde egal. Ich hätte auch gehen, die Tür hinter mir zumachen, aus dem Fenster springen können. Ich bleibe sitzen.
    Das allein ist gerade wirklich: die Hornmelodie, die Stimme, der Lichtschein und der Hauch eines Schlafes, der das Zimmer füllt. Viel später öffnet sie die Augen, sieht mich an und flüstert, mitten aus einem Traum heraus und so, als sei dies der Ertrag des Schlafs:
    »Es ist nämlich so: Man kann sich das Leben erst nehmen, wenn man es sich gegeben hat.«
     
    June ist eine Steinbildhauerin in Wien. Tagsüber arbeitet sie mit schweren Motorsägen

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