Momentum
Kinn, wendet sich ihm noch mehr zu, jetzt gefällt er ihr noch besser. Er ist bei seinen Überlegungen, sie hört ihm zu, hört ihm aber eigentlich nicht zu, sie ist bei ihm.
Als er in den Nassräumen verschwindet, lehnt sie sich zurück, mustert jeden im Restaurant, hält jeden Blick länger aus als jeder andere. Denn alle geben nach. Sie bezieht ihre Herrschaft von da. Der Junge schlendert zum Tisch zurück, beugt sich und küsst sie kameradschaftlich auf die Wange, beschwichtigend. Bezaubert und erniedrigt zugleich, errötet sie. Es wird schwer werden, ihm dieses Erröten zu verzeihen.
Die leise Form der Liebe, die geneigte. Da schwärmt der Junge in die Verliebtheit und ist gleich wieder draußen. Da schwärmt er wieder hinein in die Verliebtheit, und eine Ablehnung weiter wird er wieder hinausgetrieben, aber jetzt in die Liebe. Seine Reflexe sind vielleicht immer noch die des Verliebten. Als Liebender dagegen hält er an sich, bleibt betrachtend. Sie legt ihre Hand auf seinen Arm. Die Liebe ist eingetreten in dem Moment, in dem beide sie dort vergessen.
Champagnerstimmung: Es ist schön, dass die Erde gekrümmt ist, dass man Wolken von oben sehen kann, dass Körper sich wölben können, dass Salat grün ist, dass es Geschwindigkeit gibt, dass man sie fühlen und manchmal selbst bestimmen kann, dass Sprache allein dich zu Freunden bringt, dass die Flamme unberechenbar ist, dass es harmlose Schadenfreude gibt und freigebige Redseligkeit und Schaulust und Tierliebe, dass Gesichter ein Versprechen sein können, dass man sich an nichts ernähren kann, und dass sich ein Jenseits auftut, wohin man auch blickt.
Und dann der asketische Christuskopf des Fußballers, der Mann am Tisch, der im Gesicht der Geliebten liest wie in einer Speisekarte, der Alte, der sich als »der Witwer einer ungeborenen Frau« bezeichnet, der junge Kerl, der auf den Bahnhof geht, um sich Abschiede anzusehen, die Frau mit den schmutzigen Augen, eine Tierurnendesignerin, eine Schaum-vor-dem-Mund-Geborene, sie sind alle die Zeitgenossen eines Tages, an dem der Geist der Traumsachlichkeit die Figuren im Raum verteilt wie auf einem Spielbrett.
Nach der Vorführung, so steht es in der Einladung, wird der Regisseur ein paar Sätze zum Publikum sagen. Er war früher Stotterer. Dies sind die Gelegenheiten, bei denen er es wieder werden könnte. Also tritt er, als der Abspann durchgelaufen ist, vor die Leinwand und begrüßt das Premierenpublikum. Er spricht unsicher, einmal, weil er unter der Last der gerade gesehenen Bilder spricht, aber auch, weil er generell nicht gut spricht. Mit einem kleinen Scherz aber findet er ganz gut in sein Fahrwasser. In der ersten Reihe hört ihm niemand besser zu als seine Ehefrau. Ihre Lippen bewegen sich mit jedem Satz, den er spricht. Jedes Zögern und Stottern gleicht sie aus. Ihr Blick ist mütterlich, jedes Mal, wenn er ihn streift, wird er unsicherer. Sie spricht, was er sagt, mit lächelnd angespannten Lippen stumm und auf einem begütigenden Nicken mit. Als er das sieht, verhaspelt er sich zum ersten Mal. »Ich werde dir bleiben«, sagen ihre geschlossenen Augen, während sie und er gerade allein sind, »komme, was wolle.«
Eine junge Frau hängt nächtlich über der Brüstung der Brücke. Sie schreibt kopfüber, die Worte Buchstabe für Buchstabe bauend. Zwischendurch richtet sie sich auf, um die Sprühdose klackernd in der Nachtluft zu schütteln. Ich muss erst die Brücke verlassen und auf der leeren Uferpromenade ankommen, um lesen zu können, was sie dort, von hinten nach vorne buchstabierend, in Blocklettern in die Welt schreit: »Reikyo, mio amore, come back, you are my allelujah.«
Die Stadt beginnt gerade. Ich laufe in ihr Erwachen hinein, Gesichter suchend. Und was finde ich: bauchfreie Mütter, ihre Kleinkinder energisch hinter sich her zerrend, humpelnde Alte in Blue Jeans, weißhaarige Ordensschwestern mit Rucksack, Witwen in Leggings, Großmütter samt Enkeln, die im Gehen aus der Flasche trinken, all die Ondulierten, Gefärbten, die kunstledernen Mädchen mit Anoraks in den Farben von WC -Steinen. Und die Gucci-Witwe in Schneestiefeln. Die Falten in ihren Gesichtern aber sind die von ausgetretenen Schuhen.
Die Wirklichkeit übernimmt erst mit den Radieschen-Verkäuferinnen, die ihre roten Büschel an abgearbeiteten Händen in den Passantenstrom halten und ihr Kopftuch tragen wie eine Livree. Ein blondes Mädchen in Schneeweiß hat ihren Geliebten auf einer Parkbank
Weitere Kostenlose Bücher