Momentum
am Basalt, trägt eine Schweißerbrille gegen den Funkenflug, einen Kittel, eine Ballonmütze, unter die sie ihr blondes Haar packt. Abends geht sie zu Fuß in ihre kleine Wohnung in einem Vorort, legt ein schwarzes Kleid an, eine Lederjacke dazu und besucht Vernissagen. Isst von den Buffets, verwickelt das anwesende Personal der Kunstszene in seltsame Unterhaltungen und ist meist früh wieder weg. Manchmal wird sie auch von Galeristen oder Künstlern zum Essen eingeladen. Auch da bricht sie meistens früh auf. Sie braucht Zeit für sich. Niemand weiß – June ist so hübsch und jung, dass man sie wohl für die Tochter wohlhabender Snobs hält –, dass sie kein Geld hat, gar keines. Ihr ganzes Leben widmet sie, ohne es so dramatisch zu nehmen, wie es klingt, der Kunst. Dazu gehört auch der Besuch an den Buffets, das Essen mit Kunstsinnigen. Auf diese Weise ernährt sie die brotlose Kunst.
An einem Abend ist sie also wieder hungrig unterwegs zu einem Empfang, als beim Verlassen der U-Bahn der rechte Schuh zerreißt. Dies ist ihr letztes Paar. Der Schaden, das weiß sie, kann nicht behoben werden. Er wird sie das Essen und die Vernissagen kosten, die Heimlichkeit ihrer Armut und ihr zweites Leben. Aber erst als sie den Bettler vor der Tür sieht, kommen ihr die Tränen angesichts seiner Freiheit, die sie nicht hat: die Hand auszustrecken und so mit dem im Luftraum schwebenden Handteller eins zu werden mit dem sozialen Status, demaskiert, aber erkannt.
Das nächtliche regennasse Pflaster, das Wandern durch die Reklamen, die Bedrohung durch Autos und auf andere Weise durch Schaufensterauslagen. Später werde ich sagen, ach, diese Hochgeklappte-Kragen-Stimmung: Das war Wien. Eine junge Frau ging vor mir durch den nächtlichen Arkadenhof. Ich freute mich an ihrem langen Zopf, den sie nach hinten über die Schulter warf. Aber als sie in den Lichthof des Hauseingangs trat, war es ihr Schal. Das blieb.
Ich bin hier froh gewesen, halb leer froh, auf spekulative Weise froh, und wenn etwas Politisches den Horizont eintrübte, verfolgte ich seine Auflösung im Live-Ticker. Wenn Leute auf ein Gebäude zuströmten, war ich unter den Zuschauern, mitten in der Erwartung, die sich in der Luft verteilte, nicht gebündelt vom Saal. Sie trugen dem Gebäude etwas an: Gib, sagten sie, sei, wünschten sie, mach uns Werden!
Einmal lerne ich eine Frau in Schwarz kennen, die als »pompe funèbre« arbeitet. Das sind jene professionell Trauernden, die als Repräsentanten der Stadt denen ohne Angehörige das letzte Geleit geben. Wir sind in der ersten Verliebtheit. Als der Sarg kommt, gehe ich hinter den Gebüschen mit. Sie, mit der Silhouette einer Chauffeurin, schreitet gleichermaßen für die Gesellschaft, für den toten Obdachlosen auf seinem letzten Gang und für mich, in dessen Blick sie ihre Pavane tanzt als ein stattlicher Pfau, der sich im Innehalten die eigene Hand küssen wird.
Ein Mann blickt über den Rand der Speisekarte direkt auf den Busen der Bedienung. Sie aber hat den Kopf zum Nebentisch gewendet, als sie fragt:
»Und gefällt Ihnen, was Sie sehen?«
Er erwidert: »Ach, das hatte ich schon oft.«
Ihre Augen treffen sich nicht, ihre Sätze ebenso wenig.
»Entschuldigen Sie, Ihre Antwort habe ich nicht verstanden«, sagt sie.
»Es gibt mehr Fliegen als Antworten«, erwidert er.
Sie sagt: »Entschuldigen Sie, Ihre Antwort …«
Jetzt schauen sie sich erstmals in die Augen. Ab da wird tatsächlich ein Gespräch daraus.
Eine Frau tritt ins Restaurant mit einem kühnen, intelligent gereiften Knabengesicht, eine Zwanziger-Jahre-Gestalt auf dem Weg in den Spätsommer ihres Lebens. An ihrer Seite geht ein Junge, schön im grauen Pullunder, mit einem Kopf, der sich im Sitzen zwischen die Schultern duckt. Was immer er ihr ist, sie behandelt ihn wie eine Mäzenatin, wie ihren Künstler, ihre Entdeckung, sie will ihn, sie fordert ihn, und sie wird das Essen bezahlen. Er ist bei seiner Idee, redet zum Tischtuch. Sie erlaubt sich, ihn unverhohlen anzuhimmeln. Das ist ihre Libertinage. Unter der schwarzen Strähne, die sie trägt wie eine Morphinistin auf einem Gemälde von Christian Schad, fixiert sie ihn immer so lange, bis er wegblickt. Aber er blickt rasch weg. Er kann nicht. Er kann auch nicht spielen. Außerdem hat er Ideen und andere Motive, hier zu sein als sie. Aber als der Wein kommt, lehnt er diesen nach kurzer Prüfung ab, setzt ein Zeichen. Sie legt jetzt mit stummer Theatralik die Hand unter ihr
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