Momentum
zurückgelassen und geht unter den Bäumen mit einer erloschenen Zigarette auf und ab. Als sie mich um Feuer bittet, fliedert es mir aus ihrem Halsausschnitt entgegen. Der Geliebte hat sich brüsk weggewendet, ist aufgestanden, den Fluss entlang zügig auf und davon gegangen. Ich versuche ein beschwichtigendes Wort.
»Die Liebe wird überschätzt«, sagt sie.
»Da wäre ich mal nicht so sicher«, behaupte ich. Aber sie erwidert:
»Wenn sie nicht überschätzt wird, warum bin ich nicht im Himmel?«
Und ich behaupte nichts mehr.
Der Lastkahn auf dem Rhein trägt den Namen »Esperanto«. Eine Frau im BH , ausgerüstet mit einer winzigen Bürste, scheuert seine Außenbordseite. Über ihr schreitet gerade der rot geziegelte Kirchturm vorüber, der seit Jahrhunderten aus einem Ensemble von Häusern ragt, gleich welcher Häuser, gleich welcher Industrie. Er schaut ihr nach. Abgewandt über der Reling hängend, sieht sie den Turm nicht. Er lässt den Glockenschlag hören. Sie arbeitet. Der Turm ist wie der Alte auf der Bank neben mir, als er sagt:
»Ich gehe ungesehen und unverstanden.«
Auch Esperanto.
Das Spielen zwischen den Feldern, am Bachlauf unter den Weiden, mit den blassblütigen Erben starkknochiger Bauern; die unbefestigten Straßen, das Gestrüpp in den Wegrainen, die Fruchtbarkeit der weiten Felder, zwischen denen die Höfe vereinzelt standen – all das neigte sich, von heute aus betrachtet, einem anderen Zeitalter zu, verdammt nicht, sich zu wandeln, sondern zu verschwinden.
In der Stadt dagegen sind heute die Gassen so frisch, die Fassaden so kostbar. Ich laufe immer mit erhobenem Kopf herum, immer mit dem Blick in den Himmel, an den Säumen der Giebel und Firste entlang. Die Häuser sind in diesen Zonen schön, unbelebt und unverschmutzt. Es ist die Liebe zur Großstadt, die jetzt in die Gasse tritt, als sich die Straßenbahn in die Kurve neigt und durch den fallenden Schnee herankommt. Wie unzeitgemäß, diese Düsternis, und dass sich zwei Straßenkehrer in ihren strahlenden Westen unterhalten, auf zwei Reisigbesen gestützt, und dass sich Menschen an der Haltestelle mit Schirmen aushelfen. Es erinnert mich an die Auslage eines Geschäfts für Brautmoden mitten im Krieg im Kongo – sie war Kunst.
Nachts fliegen oft große Libellen an die Gitter vor den Lichtschächten des Hotelzimmers, rasseln mit ihren Flügeln über den Maschendraht und verursachen dabei ein Geräusch, wie wenn man eine Korallenkette in einen Ventilator hält.
Auf der anderen Seite der Straße öffnet gerade das Kino seine Seitenportale, und die Besucher strömen in die Nacht. Zum Gekreisch der Geigen sieht man den Vorhang in einen Kuss hineinfahren. Genau wo sich die Vorhanghälften treffen, werden auch die Lippen aufeinanderliegen. Das muss ja so kommen, denken sich die Ersten, ihre Kleider raffend, das können wir uns sparen, und schon schieben sich im Flackern der Laternen zwei Jungen auf der Straße eine Getränkedose zu. Jetzt ist ja Nacht. Also ein Film weiter. Jetzt riecht die Luft nach Regen. Der Wind mischt sich ins Spiel ein. Er bestimmt nicht den Sound, er ist Mitwirkender, und während der Ältere der beiden Jungen die Dose geschickt auf seinem Schuh balanciert, sagt er gerade:
»Die kennste doch, die Isolde, die mit dem tiefen Ausschnitt.«
Es gibt auch diesen Augenblick, in dem der Gesichtsausdruck der Tennisspielerin mitten im Schlag schweift und weich wird. Er hat jetzt nichts mehr mit dem Schlag zu tun, ist eher wie ein Blick, der über eine Abendlandschaft dahingeht, einer, der im konzentriertesten Akt ziellos wird. Oder die Volleyballspielerinnen, die sich nach jedem erzielten Punkt zum Kreis stellen, um die Arme ineinanderzuflechten, und man sieht zu, wie sie sich finden müssen, diese sich flechtenden Arme, bevor sie liegen. Der Sport ist am reichsten in seinen Nebenhandlungen, in den Ausdrucksbewegungen, die an kein Ziel führen und die keiner Inszenierung unterliegen, sondern die sich einstellen, weil gerade Bewusstlosigkeit herrscht. Da, in der Unverständlichkeit der ineffektiven Handlung, ist er verschwenderisch.
Die Spielerin wird gefoult. Ihre Beine heben sich vom Boden in ihren weißen Stutzen, die Waden schweben in einer Horizontale. Dann stürzt sie. Der blonde Pferdeschwanz breitet sich fächerförmig im Gras aus. Die Decke der Halme nimmt ihn auf. Nichts ist gerade so schön wie das sonnenbeschienene Haar auf dem Gras, das lichtdurchflutete Haar über dem
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