Momentum
Zangen, und als man so vieles noch lose kaufte. Das Murmeln ihrer Konversation treibt mich in die Selbstvergessenheit, und als ein Mann an unseren Tisch tritt, sich in einen Stuhl sacken, den Ober kommen lässt und draufgängerisch schaut und sagt: »Eine Flasche Weißwein für sechs Personen«, da sage ich gleich: »Ich bin dabei«, und auch die beiden Dämchen nicken. Es ist der Augenblick, in dem ich den Abschied unter die Leute bringe.
Im Gebirge, über einer Bucht des Lago Maggiore, dessen Tiefstand die Ufergräser meterweit aus der flachen Lauge herauswachsen lässt, liegt hoch zwischen Bäumen und Felsbrocken ein Hotel. Der nächste Ort kilometerweit weg, die Landschaft zu arm, zu herb, um zu locken. Das Hotel ist natürlich geschlossen, wie vernagelt. Sechs Stockwerke hoch Schweigen. Der Müll vergangener Gastlichkeiten ist auf der Rückseite noch gelagert und auch der Schrott der Maschinen, die einmal dazu da waren, fette Speisen für verwöhnte Gäste zuzubereiten und sie von jungen Kellnern auf die Terrasse tragen zu lassen, mit Blick auf den See.
Der Wind stößt gegen das angelehnte Portal. Hier war ich vor Jahren glücklich. Diese überflüssigen Tonnengewölbe und verschwenderischen Stuckaturen! Verdunstet sind die Kotflecken der Herrenhunde, die Fenster des Concierges vermauert. Vor Jahren brannten die Lichter noch in eigenen Nischen. Damals war dies ein Raum, gefüllt von Erwartung, kein Durchgang. Inzwischen hinterlassen die Entrümpler und Bestatter ihre Firmenadressen auf der Innenseite des Portals. Vergilbte Interessenbekundungen, symbolische, sagen sie doch eigentlich und unisono: Es ist vorbei.
Heute kursiert der Tipp vielleicht noch, die Nummer steht noch im Telefonbuch, aber hinter dem ruinierten Palast weidet ein Schäfer seine Herde, nahe am Abgrund zum abendlichen See. Ein Mutterschaf mit blauer Markierung im Fell hat soeben geworfen, das Lamm schrie sogleich, als es die Zitze nicht fand. Gravitätisch nähert sich ihm die Mutter, reicht die Zitze an, und das Junge nuckelt befriedet. Der Mutter hängen unterdessen Blutzotteln am After herab, und ein Stück Eingeweide schlenkert zwischen den Hinterbeinen, von Haut und Sehnen und blauen Adern überzogen.
Ich erinnere mich der Stelle, wo ich Kind war. Dort rufe ich an. Doch es ist niemand da.
Es ist die Trauer, die Individuen hervorbringt. Also versammelt die Frau in diesem Straßencafé zwar lächelnd vier Tauben auf dem ausgestreckten Arm. Aus einem unbekannten Grund fällt dazu aber die Träne aus ihrem Auge, rollt über ihren Angora-Pullover, lässt nichts zurück, krümmt bloß die äußersten Härchen und reist weiter, bis hinab in den Schoß. Da zerplatzt sie, im Tal des Schoßes. Die Frau ist ganz Charme ohne Körper. Die Träne stammt nicht aus ihren Augen, sondern aus ihrem Gemüt.
Da sitze ich also wieder im sechsten Stock des Turiner Stadtpalais. Es ist Winter, das Fenster kann trotzdem offen stehen, so lieblich wie dieser Winter ist, und nicht die Luft allein, vor allem das Licht lasse ich ein, das in Pastell von den Hügeln aus über die spätnachmittägliche Stadt dringt. Ich lese, der amerikanische Musiker La Monte Young schrieb eine Komposition, die nichts ist als die Beobachtung eines Schmetterlings, der im Zimmer herumfliegt. Musik, so gesehen, ist die Betrachtung von etwas. Schon bei Bach und Bill Evans ist es ergreifend, wenn die Musik die Stille organisiert, sie sogar steigert. Wenn Musik sogar die Betrachtung von Ideen sein kann, wäre dann Nichtklang vielleicht auch Musik? Unter Delphinen, Walen, Wölfen, im Dschungel, im Wasser, in der Luft – überall soll also nicht allein Mitteilung, sondern Musik sein? Gibt es denn auch eine Architektur der Luft?
Solche Fragen stellt meine Lektüre. Da setzt vor dem Fenster Straßenmusik ein, erst die Ziehharmonika, gespielt im Zirkusstil, dann eine effekthascherische Trommel, ein Schellenkranz, eine Trompete, eine Posaune sogar, die humoristische Effekte erzeugt. Hinein dringt das Klatschen des Publikums. Das Ensemble hat den Charme alter Wanderzirkus-Kapellen. Manchmal hetzt es asthmatisch einem Höhepunkt zu, setzt ab, setzt wieder ein und ist gleich bei den Weinseligen, wenn sie mit tränenverschmiertem Gesicht vor sich hin spielen.
Das Drama aber liegt nicht in der Musik, es liegt in ihren Pausen. Auch wenn in diesen Pausen der Artist vielleicht auf das oberste Ende einer Leiter steigt, die er selbst hält, auch wenn er humoristisch abstürzt oder einen
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