Momentum
Salto schafft, die Musik setzt sich doch im Schweigen fort, sie ist noch in der Luft. Ihr Ausblenden ist auch ihr Glück und sagt, dass sie Platz macht, um wiederkehren zu können.
Auf der Bühne sind schon die ersten Eleven auf Zehenspitzen schwebend in Rosé vorübergeschwirrt, da drängt sich noch eine alte Verspätete durch die Reihen des Zuschauerraums, ihrem Sitz entgegenfallend, wobei sie den Zunächstsitzenden mit mehreren Gliedmaßen über Gesichter und Körper fährt. Während sie noch ihre Regenjoppe ablegt, hat sie schon ein Ohr für kleine Geräusche im Publikum und fährt sofort hinein: »Silenzio!« Die oft halb pantomimischen Vorgänge auf der Bühne quittiert sie durch kleine Schnalzgeräusche, atmet auch mal indigniert aus, hat zu jedem Vorgang ein Urteil parat.
Zum Schluss der Vorstellung klatscht sie sich die rissigen Hände rot und will gar nicht aufhören, sie ruft auch dazwischen, klatscht und ruft und klatscht und betrachtet am Ende des Abends zufrieden ihre roten Handteller. Zuletzt sehe ich sie im Foyer, die zerklatschten Hände auf den Köpfen eines Mädchens, eines Jungen, die gekommen sind, sie sicher nach Hause zu führen.
Ich setze mich vor die Tür unter die Arkaden. Eine junge Frau hat ihre Kissenfüllung voll Haar im Mahagoni-Ton gefärbt. Auf und ab trägt sie sie vor dem Café, auf und ab. Sie hat ein Gesicht, das früh Augenringe kriegt, eines wie aus der Reklame für Talika-Wimpernwuchscreme. Zu ihrem kleinen Hund sagt sie abwechselnd »Du bleibst hier!« und »Bleibst du hier!« Der Mann, den ich auf das Sprühende in ihr aufmerksam machen will, sagt:
»Also entschuldigen Sie, aber mit dem Gesicht ist es doch schon vorbei, eh es begonnen hat.«
Im selben Café stehe ich ein wenig später am Waschtisch vor den Toiletten. Die Frau neben mir prüft lange die eigene Erscheinung im Spiegel.
»Wissen Sie, was ich oft denke, wenn ich mein Gesicht so betrachte?«
»Und?«
»Noch, denke ich. Noch.«
Unter den Arkaden des Corso kommt mir unter schreienden Grüßen, eifrigen Handzeichen, viel Gefuchtel eine Alte entgegen, greift meinen Arm und zieht mich an sich:
»Alle sind verrückt heute«, zischt sie feucht in mein Ohr, »und ich bin auch nicht besser.«
Sie lacht wiehernd, ich lache so dezent, wie ich muss, wir lachen, weil unsere Gesichter nicht weiterwissen. Überlegen streicht sie sich ihre schwarzen Strähnen aus der Stirn, lacht mich weiter herrlich an mit einem Mund voller Freundlichkeit und ohne Zähne, und da wir nicht immer weiterlachen können, bittet sie mich um Kleingeld. Ich gebe ihr einige Münzen, da packt sie meine Rechte, küsst mir den Rücken des Mittelfingers heiß und trocken und steckt ihn sich anschließend in den missratenen, armen Mund wie um umzurühren. Mittendrin schütteln wir uns beide ab.
Die junge Reiseleiterin in den »Uffizien« hält meistens sogar während ihrer Erklärungen den Knirps hoch, verständlich, angesichts all der Besucherherden und der Migrationen von Bild zu Bild. Einmal wird sie auf so einer Promenade von einem Gentleman angesprochen. Er gehört zwar nicht zu ihrer Gruppe, aber seine Frage ist gut: Ob es nicht sein könne, fragt er, dass das Werk »De divina proportione« des Luca Pacioli eigentlich nicht von diesem stamme, sondern ihm vielmehr vom blinden Piero della Francesca diktiert worden sei, so dass es Pacioli nach dessen Tod unter eigenem Namen publiziert habe? Sie argumentiert, den Schirm in der Höhe, die Gruppe folgt blind. Der Mann gefällt der Führerin, sie gefällt ihm. Das ist der Grund für seine Frage. Das ist der Grund für ihre raumgreifende Antwort. Zehn Minuten später findet sie sich in der flämischen Abteilung wieder, die Gruppe ist ihr noch immer folgsam auf den Fersen. Ihr Blick, als sie die lächelnden Augen des Mannes sieht, der seine eigene Wirkung bewundert, ihr Blick, als sie die Gesichter der Touristen einsammelt, ihr Blick, als sie zum Portinari-Altar des Hugo van der Goes aufblickt und die Angst der Hirten auf dem Felde vor dem Verkündigungsengel nachbuchstabiert, das ist der Blick derer, für die die Liebe ein In-die-Irre-Gehen bedeutet.
Wie edel, diese Gewänder in Piero della Francescas »Anbetung des Heiligen Kreuzes«, diese schweren Brokate, in Komplementärtönen angeordnet. Wie Weihnachtsfiguren aus dem Erzgebirge sammeln sie sich um die Königin von Saba, und schön ist beides: dass sie stehen wie der Wald, der fromm und lichterheilig wird, und dass man
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