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Momo

Momo

Titel: Momo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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mußten sie heute vergessen haben. Aber sicher, dachte Momo, war das Ganze nur ein Versehen, irgendein dummer Zufall, der sich morgen aufklären würde.
Sie stieg zur Schildkröte hinunter, die sich schon zum Schlafen in ihr Gehäuse zurückgezogen hatte. Momo hockte sich neben sie und klopfte mit dem Fingerknöchel schüchtern auf den Rückenpanzer. Die Schildkröte schob ihren Kopf hervor und blickte Momo an. „Entschuldige bitte“, sagte Momo, „es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber kannst du mir sagen, warum heute den ganzen Tag kein einziger von meinen Freunden gekommen ist?“ Auf dem Panzer erschienen die Worte: „KEINER MEHR DA.“ Momo las sie, verstand aber nicht, was sie bedeuten sollten. „Naja“, sagte sie zuversichtlich, „morgen wird sich's schon herausstellen. Morgen kommen meine Freunde bestimmt.“
„NIE MEHR“, war die Antwort.
Momo starrte die matt leuchtenden Buchstaben eine Weile an. „Was meinst du damit?“ fragte sie schließlich bang. „Was ist denn mit meinen Freunden?“
„ALLE FORT“, las sie.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie leise, „das kann nicht sein. Du irrst dich bestimmt, Kassiopeia. Gestern waren sie ja noch alle da zur großen Versammlung, aus der nichts geworden ist.“
„HAST LANG GESCHLAFEN“, lautete Kassiopeias Antwort. Momo erinnerte sich, daß Meister Hora gesagt hatte, sie müsse einen Sonnenkreis hindurch schlafen wie ein Samenkorn in der Erde. Sie hatte nicht bedacht, wieviel Zeit das sein mochte, als sie zugestimmt hatte. Aber nun begann sie es zu ahnen. „Wie lang?“ fragte sie flüsternd.
„JAHR UND TAG.“
Momo brauchte eine Weile, ehe sie diese Antwort begriffen hatte. „Aber Beppo und Gigi“, stammelte sie schließlich, „die beiden warten doch bestimmt noch auf mich!“
„NIEMAND MEHR DA“, stand auf dem Panzer.
„Wie kann denn das sein?“ Momos Lippen zitterten. „Es kann doch nicht einfach alles weg sein – alles, was war…“
Und langsam erschien auf Kassiopeias Rücken das Wort: „VERGANGEN.“ Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Momo mit voller Gewalt, was dieses Wort bedeutet. Ihr Herz wurde schwer wie nie zuvor.
„Aber ich“, murmelte sie fassungslos, „ich bin doch noch da…“
Sie hätte gern geweint, aber sie konnte nicht.
Nach einer Weile fühlte sie, daß die Schildkröte sie an ihrem nackten Fuß berührte.
„ICH BIN BEI DIR!“ stand auf ihrem Panzer.
„Ja“, sagte Momo und lächelte tapfer, „du bist bei mir, Kassiopeia. Und ich bin froh darüber. Komm, wir wollen schlafen gehen.“ Sie nahm die Schildkröte hoch und trug sie durch das Einstiegsloch in der Mauer in ihren Raum hinunter. Im Licht der untergehenden Sonne sah Momo, daß alles noch so war, wie sie es verlassen hatte. (Beppo hatte das Zimmer damals wieder aufgeräumt.) Aber überall lag dicker Staub und hingen Spinnweben.
Auf dem Tischchen aus Kistenbrettern lehnte an einer Blechbüchse ein Brief. Auch er war von Spinnweben bedeckt. „An Momo“, stand darauf.
Momos Herz begann schneller zu klopfen. Sie hatte noch nie einen Brief bekommen. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten, dann riß sie das Kuvert auf und nahm einen Zettel heraus.
„Liebe Momo!“ las sie. „Ich bin umgezogen. Falls du zurückkommst, melde dich bitte gleich bei mir. Ich mache mir große Sorgen um dich. Du fehlst mir sehr. Hoffentlich ist dir nichts passiert. Wenn du Hunger hast, dann geh bitte zu Nino. Er schickt mir die Rechnung, ich bezahle alles. Also iß nur, soviel du willst, hörst du? Alles Weitere sagt dir dann Nino.
Behalte mich lieb! Ich behalte dich auch lieb!
Immer dein Gigi“
Es dauerte lang, bis Momo diesen Brief buchstabiert hatte, obwohl Gigi sich offensichtlich alle Mühe gegeben hatte, schön und deutlich zu schreiben. Als sie endlich damit fertig war, erlosch gerade das letzte Restchen Tageslicht.
Aber Momo war getröstet.
Sie hob die Schildkröte hoch und legte sie neben sich auf das Bett. Während sie sich in die staubige Decke hüllte, sagte sie leise: „Siehst du, Kassiopeia, ich bin doch nicht allein.“
Aber die Schildkröte schien bereits zu schlafen. Und Momo, die beim Lesen des Briefes Gigi ganz deutlich vor sich gesehen hatte, kam nicht auf den Gedanken, daß dieser Brief schon fast ein Jahr hier lag. Sie legte ihre Wange auf das Papier. Jetzt war ihr nicht mehr kalt.

VIERZEHNTES KAPITEL:   Zu viel zu essen und zu wenig Antworten

Am nächsten Mittag nahm Momo die Schildkröte unter den Arm

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