Mond der Unsterblichkeit
unruhigend, denn die Frau besaß Ambers Züge. Ein Schauer rann Aidans Rücken entlang. Dieser Traum hatte sich seit seiner Kindheit ins Gedächtnis gebrannt. Verfluchter Traum! Weshalb war er nach so vielen Jahren wieder präsent? Er schob den Umstand, dass Amber darin vorkam, auf das G e spräch von vorhin.
Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz vor Mitte r nacht war. Wie in jedem Jahr würde sein Vater mit einer kleinen Prozession von Fackeltr ä gern hinauf nach Clava Cairn ziehen, um dort zu Ehren Samhains, dem Tode s gott und Hüter der dunklen Zeit, nach alter Tradition ein Feuer zu entfachen. Seine Mutter hatte ihm immer verb o ten, einer Prozession beizuwohnen. Jedes Mal hatte das zu einem Kon f likt zwischen den Eltern geführt, den seine Mutter gewann. Aidan war froh gewesen, diesen Feierlichkeiten entgehen zu können, die ihn ängstigten, durch die für ein Kind u n verständlichen Bräuche, noch dazu in der Dunkelheit.
Nachdenklich blickte er aus dem Fenster in die Nacht. Seine Gedanken wa n derten wieder zurück zu Amber. Es war so unsensibel gewesen, sie zurückzust o ßen. Kein Wunder, dass ihm sein schlechtes Gewissen Alpträume b e scherte, weil er sie allein in der Dunkelheit zurückgelassen hatte. Ob sie schon zurückgekehrt war? Um sich zu vergewissern, b e schloss er, noch einmal in den Park zu gehen, um nach ihr zu sehen. Du bist ein Masochist, Aidan Macfarlane, dachte er, und schüttelte über sich selbst den Kopf.
Als er die Haustür öffnete, schlug ihm eine Mischung aus Gelächter, Rauch und Whiskyduft entgegen. Viele der Gäste hatten das Fest bereits verlassen, nur der harte Kern war geblieben, der dem Whisky kräftig zusprach. Sein Vater war nirgends zu sehen, woraus er schloss, dass dieser die Prozession bereits zum H ü gel hinauf führte.
Schritte näherten sich, er drehte sich um. Seine Erwartung, es könne sich um Amber handeln, wurde enttäuscht. Es war Kevin, der plötzlich hinter ihm im Türrahmen stand und ihn fr a gend ansah. Er trug bereits einen Pyjama.
„Hm. Wo ist Amber?“ Kevin rieb sich den N a cken.
„Ich dachte, sie sei schon hier“, antwortete Aidan. Sein Traum kam ihm in den Sinn und verursachte ein unangenehmes Gefühl in der Mage n gegend.
„Nee, ich hab sie seit dem Buffet nicht mehr gesehen. Ich dachte, sie ist noch unten beim Fest.“
„Dort ist sie nicht. Vielleicht hast du sie nur nicht gehört, und sie schläft b e reits.“
Kevin schüttelte den Kopf. „Hab schon nachgesehen. Da isse nich. Und mein Dad ist auch noch in der Brennerei. Mom sagt immer, er is mit der verheiratet und nich mit ihr.“ Kevin versuchte sich an einem L ä cheln.
Aidan tat einen Schritt auf ihn zu und legte ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. „Er leitet die Brennerei hervorragend. Das bedeutet viel Ve r antwortung. Bestimmt hat er nur noch einmal nach dem Rechten gesehen, und kommt bald zurück. Leg dich wieder hin. Ich we r de Amber suchen.“
Kevin nickte und schlurfte wieder die Treppe zur Wohnung hinauf.
Von Unruhe erfasst, begann Aidan seine Suche nach Amber unter den restl i chen Gästen. Aber niemand hatte sie seit längerer Zeit gesehen. Selbst als die Prozession zurückkehrte, befand sie sich nicht unter ihnen.
„Vater, ist Amber mit euch zum Steinkreis gegangen?“
„Wer?“
„Amber, die Tochter von Mr. Stern.“
Gordon schüttelte den Kopf. „Ach, die. Nicht, dass ich wüsste. Oder habt ihr sie gesehen?“ Er wandte sich an die anderen, die sich mit neugierigen Mienen im Hal b kreis um ihn versammelten.
„Nein, wir haben sie nicht gesehen“, sagte Cecilia mit tonloser Stimme.
Ewas in ihren Augen gab Aidan das Gefühl, das sie mehr wusste, als sie ihn glauben machen wollte. Aber er kannte ihre Verschlossenheit und wusste, es wäre reine Zeitverschwendung, weiterzubohren.
Aidans Blick glitt an der weißen Kutte abwärts, die sein Vater trug. Blutflecken b e fanden sich oberhalb des Saums. Er schloss daraus, dass sie wieder ein Tier zu Samhain geopfert hatten. Doch noch etwas stimmte nicht. Die Mitglieder des Druidenclans besaßen heute eine stoische Ruhe. Ihre Blicke waren starr und e r innerten an die von Toten.
„Seid ihr sicher, dass ihr sie nicht gesehen habt?“
„Wenn einer von uns sie gesehen hätte, würden wir es dir sagen. Bestimmt liegt sie oben im Bett und schläft.“
Amber war zu klug, um sich bei der Dunkelheit zu weit vom Schloss zu en t fernen und sich ins gefährliche Moor zu verirren.
Weitere Kostenlose Bücher