Mond der Unsterblichkeit
an.“ Sallys Stimme hatte einen sel t samen tiefen, rauen Klang.
„Lass doch den Quatsch, Sally. Was hast du nur? Wovor fürchtest du dich?“
„Wenn du dich mir näherst, bedeutet es deinen Tod.“
Amber spürte, dass Sallys Worte ehrlich gemeint waren und de n noch wollte ihr Verstand ihr nicht glauben. Den Tod? Wie lächerlich war das denn?
Im gleichen Augenblick knackten Zweige. Ein grauer Körper brach aus dem Unterholz und sprang an Sallys Seite. Ein Wolf baute sich auf seinen Hinterbe i nen auf. Seine Augen glühten rot. Er knurrte und entblößte riesige Fan g zähne. Amber erstarrte. Der Wolf vom Schloss! Die Szene und auch die Furcht, die sie damals verspürt hatte, waren wieder gege n wärtig.
„Lauf, Amber, lauf um dein Leben!“, schrie Sally aus Leibeskrä f ten.
Ohne weiter nachzudenken, machte Amber kehrt und rannte d a von. Das tiefe Knurren folgte ihr. Blindlings lief sie tiefer in den Wald, nicht darauf achtend, welche Richtung sie einschlug. Sie rannte um ihr Leben, Angst klammerte sich in ihrem Nacken fest. Zweige peitschten ihr ins Gesicht und hinterließen ein Bre n nen auf der Haut. Dicht hinter ihr ve r nahm sie ein Fauchen, das ihr Schauer über den Rücken jagte. Diese Bestie war ihr so dicht auf den Fersen, dass sie den t y pisch strengen Raubtiergeruch roch, der ihr Übelkeit verursachte. Sie ko n zentrierte sich auf jeden Schritt, um nicht zu fallen.
Plötzlich traf sie etwas mit voller Wucht an der Schulter, drang durch den Stoff ihrer Jacke und bohrte sich in ihren Rücken. Der Schmerz raubte ihr den Atem.
Der Wolf hatte sie mit der Pranke erwischt. Gleich würde er sich auf sie stü r zen. Sie hechtete zur Seite und rollte sich über einen kleinen Hang ab. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie auf die Schulter prallte. Doch sie biss die Zähne fest zusammen, sprang auf und lief weiter, o b wohl sie bei jedem Schritt glaubte, ein Messer schnitte sich tiefer in ihr Fleisch. Die Jacke hing in Fetzen heru n ter und Blut rann über ihren Arm. Aber die Todesangst verlieh ihr ungeahnte R e serven.
Der abschüssige Boden unter ihren Füßen wurde unvermutet weich und A m ber versank bis zum Knöchel. Das erschwerte die Flucht. Gleich würde der Wolf auf ihren Rücken springen und sich in ihrem Nacken verbeißen. Dann wäre es vorbei. Sie wollte schreien, aber jeder Laut e r stickte in ihrer Kehle und heraus kam nur ein heiseres Gu r geln.
Zu allem Übel bekam sie auch noch Seitenstechen und begann zu schwanken. Sie tat einen Schritt nach vorn, der Boden gab nach, und sie versank bis zum Knie. Der unerwartete Stopp ließ sie nach vorn fallen. Sie ruderte mit den A r men, in der Hoffnung, irgendwo Halt zu fi n den. Tatsächlich bekam sie einen Ast zu fassen und zog sich daran hoch, doch da versank sie bereits mit dem anderen Bein im Morast. Alle Ve r suche, sich an dem Ast hochzuziehen waren sinnlos, und der schlüpfrige Grund sog sie unerbittlich tiefer. Der Ast bog sich unter ihrem Griff, ihre Hände rutschten ab, und sie versank noch ein Stück tiefer.
Ihre Lage war aussichtslos, sie fühlte sich verloren, wie noch nie in ihrem L e ben. Wut mischte sich in das Gefühl der Verzweiflung, Wut auf sich selbst, weil sie in ihrer Panik blind ins Moor gerannt war. Dabei hatte der alte Eremit sie gewarnt.
Hinter ihr ertönte ein Schnaufen. Sie warf einen Blick über die Schulter und erstarrte, denn der Wolf stand nur eine Armeslänge entfernt, obe r halb von ihr, auf festem Untergrund. Geduckt beobachtete er ihre erfol g losen Bemühungen, sich herauszuziehen. We i ße Wolken traten bei jedem Atemzug aus seinem Maul. Seine blutunterlaufenen Augen funke l ten sie voller Gier an. Da er die Zähne bleckte und knurrte, rechnete Amber jeden Moment mit seinem Sprung. Es gab kein En t rinnen. Sie schloss die Augen und betete um ein schnelles Ende. Doch als nichts geschah, schlug sie die Augen wieder auf.
Mit lautem Jaulen bäumte sich der Wolf plötzlich auf, kippte auf die Seite und wand sich unter Schmerzen. Die Schreie gingen Amber durch Mark und Bein. Sein Fell riss an Armen und Beinen auf, als wolle er sich häuten. Darunter e r schien rosa Haut.
Der Wolf zuckte, während er sein Fell abstreifte, und dann lag eine nackte Frau mit grazilem Körperbau vor Amber, deren rot glühende Augen ins Leere starrten, und eher an Monster aus Filmen erinnerten als an menschliche Wesen. Rotes Haar hing wirr um ihr Gesicht. Ihre la n gen Krallen gruben sich in die Erde, während sie fauchte.
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