Mond über Manhattan
auszusuchen, diejenigen herauszugreifen, deren Not am größten war. Die Armen verdienten automatisch mehr Beachtung als die Reichen, die Behinderten waren den Gesunden vorzuziehen, die Verrückten sollten Vorrang vor den Normalen haben. Wir legten diese Regeln ganz zu Anfang fest, und in Anbetracht der Zustände auf New Yorks Straßen fiel es nicht schwer, sie zu befolgen.
Manche Leute brachen weinend zusammen, wenn ich ihnen das Geld gab; andere lachten laut; wieder andere äußerten gar nichts. Ihre Reaktionen waren unmöglich vorauszusagen, und bald hatte ich mir abgewöhnt, von den Leuten zu erwarten, was ich mir im voraus einbildete. Da gab es die Mißtrauischen, die meinten, daß wir sie hereinlegen wollten - einer ging sogar so weit, das Geld zu zerreißen, und mehrere andere beschuldigten uns als Geldfälscher; da gab es die Gierigen, denen fünfzig Dollar nicht genug waren; da gab es die Einsamen, die sich an uns klammerten und uns nicht gehen lassen wollten; da gab es die Fröhlichen, die uns zu einem Drink einladen wollten, die Traurigen, die uns ihre Lebensgeschichte erzählen wollten, die Künstler, die uns mit Tanz und Gesang ihre Dankbarkeit erwiesen. Doch versuchte zu meinem Erstaunen kein einziger von ihnen, uns auszurauben. Wahrscheinlich hatten wir damit einfach Glück, obwohl wir natürlich immer schnell den Schauplatz wechselten, an keinem Ort ehr lange verweilten. Zumeist verteilte ich das Geld auf der Straße, aber ich machte auch etliche Exkurse in die Bars und Cafés der unteren Schichten - Blarney Stones, Bickfords, Chock Full o’Nuts -, wo ich jedem Gast am Tresen einen Fünfzig-Dollar-Schein vor die Nase knallte.
«Ein bißchen Sonnenschein verbreiten!» rief ich dann und blätterte das Geld so schnell hin, wie ich konnte, und ehe die verwirrten Kunden fassen konnten, was ihnen geschah, war ich schon wieder auf die Straße gerannt. Ich beschenkte Stadtstreicherinnen und Nutten, Säufer und Penner, Hippies und kleine Ausreißer, Bettler und Krüppel - das ganze Gesindel, das nach Sonnenuntergang die Boulevards bevölkert. Um die vierzig Geschenke zu verteilen, die wir jeden Abend loszuwerden hatten, brauchten wir nie mehr als anderthalb Stunden.
Am neunten Abend regnete es, und es gelang Mrs. Hume und mir, Effing zu überreden, nicht aus dem Haus zu gehen. Am Abend darauf regnete es ebenfalls, doch nun konnten wir ihn nicht mehr zurückhalten. Es sei ihm egal, wenn er sich eine Lungenentzündung hole, sagte er, er habe etwas zu erledigen, und bei Gott, das werde er tun. Und wenn ich ohne ihn ginge? fragte ich. Nachher würde ich ihm ausführlich berichten, und das wäre dann beinahe so, als ob er selbst mit dabeigewesen wäre. Nein, unmöglich, er müsse höchstpersönlich dabeisein. Und außerdem, wie könne er sicher sein, daß ich mir das Geld nicht in die eigene Tasche stecken würde? Ich könnte doch ein bißchen herumspazieren und ihm hinterher irgendein Märchen erzählen. Er hätte keine Möglichkeit dahinterzukommen, ob ich ihm die Wahrheit erzählen würde.
«Wenn das so ist», sagte ich, plötzlich außer mir vor Zorn, «dann können Sie Ihr Geld nehmen und es sich in den Arsch stecken. Ich kündige.»
Zum erstenmal in den sechs Monaten unserer Bekanntschaft wurde Effing richtiggehend kleinlaut und entschuldigte sich. Es war ein dramatischer Augenblick, und wie er so da saß und sich in Reue und Zerknirschung erging, begann ich fast so etwas wie Mitleid mit ihm zu empfinden. Er zitterte am ganzen Körper, Speichel hing von seinen Lippen, sein ganzes Wesen schien sich aufzulösen. Er wußte, daß ich in vollem Ernst gesprochen hatte, und meine Drohung, ihn zu verlassen, war zuviel für ihn. Er flehte mich um Verzeihung an, sagte mir, ich sei ein guter Junge, ich sei der beste Junge, den er je kennengelernt habe, und er werde nie mehr, solange er lebe, ein unfreundliches Wort zu mir sagen. «Ich werde es wiedergutmachen», sagte er, «ich verspreche Ihnen, ich werde es wiedergutmachen.» Dann griff er verzweifelt in die Tasche, zog eine Faust voll Fünfzig-DollarScheinen heraus und hielt sie hoch. «Hier», sagte er, «die sind für Sie, Fogg. Die sollen Sie zusätzlich erhalten. Gott weiß, Sie haben’s verdient.»
«Sie brauchen mich nicht zu bestechen, Mr. Effing. Ich werde bereits angemessen bezahlt.»
«Nein, bitte, ich möchte, daß Sie’s nehmen. Betrachten Sie’s als Zulage. Als Belohnung für hervorragende Dienste.»
«Tun Sie das Geld in die Tasche zurück,
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