Mond über Manhattan
sein würde, die er jemals dort verbringen würde. Tante Clara war nun als einzige dort übriggeblieben, war aber nicht in der Verfassung, aufzubleiben und mit ihm zu reden. Zum letztenmal an diesem Tag absolvierte er das Ritual, ihr zu versichern, daß sie gerne in dem Haus weiterwohnen könne, so lange sie wolle. Noch einmal segnete sie ihn für seine Freundlichkeit, stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen, und noch einmal sprach sie der Flasche Sherry zu, die sie in ihrem Zimmer versteckt hielt. Von den Dienstboten - zur Zeit von Barbers Geburt waren es sieben gewesen - war nur noch einer übrig, eine humpelnde Schwarze namens Hattie Newcombe, die für Tante Clara kochte und gelegentlich einen Versuch unternahm, das Haus zu säubern. Seit einigen Jahren war das Anwesen um die beiden her verfallen. Der Garten wurde seit dem Tod seines Großvaters 1934 nicht mehr gepflegt, und was früher ein anständiger Rasen mit einer Fülle von Blumen gewesen war, bildete jetzt einen wüsten Dschungel aus brusthohem Gras. Im Haus hingen Spinnweben von fast jeder Decke; wenn man die Sessel berührte, stiegen dicke Staubwolken auf; Mäuse huschten wie wild durch die Zimmer, und Clara, die angesäuselte, immer grinsende Clara, nahm von alldem nichts wahr. Dieser Zustand währte jetzt schon so lange, daß Barber sich nichts mehr daraus machte. Er wußte, daß er nie den Mut haben würde, in diesem Haus zu leben, und wenn Clara einmal den gleichen Alkoholikertod gestorben wäre wie ihr Mann Binkey, sollte es ihm gleich sein, ob das Dach einstürzte oder nicht.
Am nächsten Morgen fand er Tante Clara unten im Salon. Es war noch nicht Zeit für das erste Glas Sherry (in der Regel wurde die Flasche erst nach dem Mittagessen entkorkt), und Barber wußte, wenn er je noch mit ihr reden wollte, dann mußte er es jetzt tun. Als er den Raum betrat, saß sie an dem Kiefernholztisch in der Ecke, den winzigen Spatzenkopf über eine Partie Solitaire gebeugt, und summte leise und unmelodisch vor sich hin. Der Mann am Flugtrapez, dachte er, als er auf sie zutrat, und dann stellte er sich hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Unter dem wollenen Umhang waren nur Knochen zu spüren.
«Die rote Drei auf die schwarze Vier», sagte er und zeigte auf die Karten auf dem Tisch.
Sie schnalzte mit der Zunge über ihre Dummheit, legte zwei Reihen zusammen und drehte dann die so frei gewordene Karte um. Es war ein roter König. «Danke, Sol», sagte sie. «Ich bin heute unkonzentriert. Ich übersehe die möglichen Ablagen und mogele dann schließlich, obwohl ich es gar nicht nötig habe.» Sie kicherte leise und fing dann wieder zu summen an.
Barber setzte sich Tante Clara gegenüber auf einen Sessel und überlegte, wie er anfangen sollte. Er bezweifelte, daß sie ihm viel zu sagen habe, aber sonst war niemand da, mit dem er reden konnte. Eine Zeitlang saß er einfach da und studierte ihr Gesicht, musterte das intrikate Netzwerk von Runzeln, die von weißem Puder überkrusteten Wangen, den absurden roten Lippenstift. Sie erregte sein Mitleid, er fand sie erschütternd. Es konnte nicht leicht gewesen sein, in diese Familie einzuheiraten, dachte er, all diese Jahre mit dem Bruder seiner Mutter zusammenzuleben, ohne eigene Kinder zu haben. Binkey war ein debiler, gutmütiger Schwerenöter gewesen, der Clara in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geheiratet hatte, kaum eine Woche nachdem er sie im Galileo Theatre von Providence als Assistentin in Maestro Rudolfos Zaubervorstellung auf der Bühne gesehen hatte. Barber hatte den zerfahrenen Geschichten, die sie von ihrer Zeit im Varietegeschäft zu erzählen hatte, immer gern zugehört, und jetzt kam es ihm seltsam vor, daß sie beide die einzigen Überlebenden der Familie sein sollten. Der letzte Barber und die letzte Wheeler. Ein Mädchen aus den unteren Schichten, wie seine Großmutter sie immer zu nennen pflegte, ein hübsches Dummchen, das sein gutes Aussehen vor über dreißig Jahren verloren hatte, und Sir Dickbauch persönlich, der immerblühende Wunderknabe, Kind einer Irren und eines Gespenstes. Nie hatte er für Tante Clara mehr Zärtlichkeit empfunden als in diesem Augenblick.
«Heute abend fahre ich nach New York zurück», sagte er.
«Um mich mach dir keine Sorgen», antwortete sie, ohne von den Karten aufzusehen. «Ich komme hier auch allein gut zurecht. Ich bin ja daran gewöhnt.»
«Ich fahre heute abend zurück», wiederholte er, «und
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