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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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weiß, daß du und Binkey erst nach seinem Verschwinden in das Haus eingezogen seid, trotzdem möchte ich wissen, ob du irgend etwas von der Suchaktion mitbekommen hast, die seinetwegen veranstaltet wurde.»
    «Dein Großvater hat das organisiert, zusammen mit Mr. wie hieß er doch gleich?»
    «Mr. Byrne?»
    «Genau, Mr. Byrne, dessen Sohn war ja auch verschwunden. Man suchte etwa sechs Monate lang, hat aber nie was gefunden. Binkey war auch eine Weile dort draußen, mußt du wissen. Er kam mit einer Menge komischer Geschichten zurück. Er hat dann erzählt, sie wären von Indianern getötet worden.»
    «Aber das hat er doch nur vermutet, oder?»
    «Lügenmärchen waren Binkeys Spezialität. Man konnte ihm nie auch nur ein Wort glauben.»
    «Und meine Mutter, ist sie auch in den Westen gegangen?»
    «Deine Mutter? Aber nein, Elizabeth war die ganze Zeit über hier. Sie war kaum... wie soll ich sagen... kaum in dem Zustand, sich auf Reisen zu begeben.»
    «Weil sie schwanger war?»
    «Nun, das wird auch eine Rolle gespielt haben.»
    «Und was sonst noch?»
    «Ihr Geisteszustand. Sie war damals nicht ganz gesund.»
    «War sie da schon verrückt?» «Elizabeth war immer, sagen wir mal, launisch. Sie konnte eben noch eingeschnappt sein und im nächsten Augenblick schon lachen und singen. Das war schon immer so, selbst als ich sie zum erstenmal gesehen habe. Überempfindlich, so haben wir das damals genannt.»
    «Und wann hat es sich verschlimmert?»
    «Nachdem dein Vater nicht zurückgekommen ist.»
    «Hat es sich langsam gesteigert, oder ist sie plötzlich durchgedreht?»
    «Ganz plötzlich, Sol. Es war schrecklich, das mitzuerleben.»
    «Du hast es gesehen?»
    «Mit meinen eigenen Augen. Alles. Das werde ich nie vergessen.»
    «Wann ist das passiert?»
    «In der Nacht, in der du... ich meine, eines Nachts... ich weiß nicht mehr wann. Eines Nachts im Winter.»
    «Was für eine Nacht war das, Tante Clara?»
    «Es schneite. Draußen war es kalt, und es stürmte gewaltig. Ich erinnere mich daran, weil der Arzt Schwierigkeiten hatte, hierherzukommen.»
    «Es war eine Nacht im Januar, stimmt’s?»
    «Kann sein. Im Januar schneit es oft. Aber ich weiß nicht mehr, in welchem Monat es war.»
    «Es war der 11.Januar, oder? Die Nacht, in der ich geboren wurde.»
    «Ach, Sol, du solltest mich nicht so ausfragen. Das ist alles so lange her, ist doch nicht mehr wichtig.»
    «Für mich ist es wichtig, Tante Clara. Und du bist der einzige Mensch, der mir davon erzählen kann. Verstehst du? Du bist als einzige noch übrig, Tante Clara.»
    «Du brauchst nicht zu schreien. Ich höre dich auch so ausgezeichnet, Solomon. Zwang und grobe Worte sind völlig fehl am Platz.»
    «Ich will dich nicht zwingen. Ich versuche bloß, meine Frage loszuwerden.»
    «Du kennst die Antwort bereits. Sie ist mir eben herausgerutscht, und das tut mir leid.»
    «Es sollte dir nicht leid tun. Wichtig ist, daß du mir die Wahrheit sagst. Es gibt überhaupt nichts Wichtigeres.»
    «Ja, nur, das Ganze war so... so... ich möchte nicht, daß du glaubst, ich würde mir das ausdenken. Ich war in dieser Nacht bei ihr im Zimmer. Molly Sharp und ich waren da und warteten auf den Arzt, und Elizabeth schrie und schlug dermaßen um sich, daß ich dachte, das Haus würde einstürzen.»
    «Was schrie sie?»
    «Schreckliches Zeug. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke.»
    «Sag es mir, Tante Clara.»
    «, brüllte sie in einem fort. »
    «Sie meinte mich?»
    «Ja, das Baby. Frag mich nicht, woher sie wußte, daß es ein Junge war, aber sie wußte es. Die Zeit wurde langsam knapp, und der Arzt war noch immer nicht da. Molly und ich versuchten sie aufs Bett zu legen, sie in die richtige Lage zu bugsieren, aber da machte sie nicht mit. Aber Elizabeth tat es nicht. Gott weiß, woher sie die Kraft nahm. Immer wieder riß sie sich von uns los und stürzte zur Tür, und sie kreischte unablässig dieses schreckliche Zeug. Schließlich zwangen wir sie aufs Bett - genauer gesagt, Molly rang sie nieder, mit etwas Unterstützung von mir - diese Molly Sharp hatte Bärenkräfte -, aber als wir sie da liegen hatten, wollte sie nicht die Beine spreizen. , schrie sie.