Mond über Manhattan
erst raus, wenn ich ihn getötet habe.> Wir versuchten ihr die Beine mit Gewalt auseinanderzubiegen, aber Elizabeth wand sich immer wieder heraus, trat und schlug um sich, bis Molly anfing, sie ins Gesicht zu schlagen - klatsch, klatsch, klatsch, so fest sie konnte -, was Elizabeth dermaßen in Wut versetzte, daß sie jetzt nur noch kreischen konnte, genau wie ein Baby, ganz rot im Gesicht, sie kreischte und schrie, als wollte sie Tote wecken.»
«Großer Gott.»
«Es war das Schlimmste, was ich je in meinem Leben erlebt habe. Deswegen wollte ich es dir nicht erzählen.»
«Trotzdem ist es mir ja wohl gelungen, herauszukommen?»
«Du warst das größte und kräftigste Baby, das man sich denken konnte. Über elf Pfund, sagte der Arzt. Ein Gigant. Ich glaube wirklich, Sol, du hättest es nicht geschafft, wenn du nicht so groß gewesen wärst. Das solltest du nie vergessen. Was dich auf die Welt gebracht hat, war deine Größe.»
«Und meine Mutter?»
«Schließlich kam der Arzt - es war Doktor Bewies, der vor sechs oder sieben Jahren bei einem Autounfall gestorben ist -, er gab Elizabeth eine Spritze, die sie einschlafen ließ. Sie wachte erst am nächsten Tag wieder auf, und bis dahin hatte sie alles vergessen. Ich meine nicht nur die vorangegangene Nacht, sondern alles - ihr ganzes Leben, alles, was sie in den letzten zwanzig Jahren erlebt hatte. Als Molly und ich dich hereintrugen, damit sie ihren neugeborenen Sohn sehen konnte, hielt sie dich für ihren kleinen Bruder. Das war schon sehr seltsam, Sol. Sie war wieder ein kleines Mädchen geworden, sie wußte gar nicht mehr, wer sie war.»
Barber wollte gerade eine weitere Frage stellen, da begann im Flur die Standuhr zu schlagen. Tante Clara legte wachsam den Kopf zur Seite und lauschte der Glocke, zählte die Stunden an ihren Fingern ab. Als die Glocke zu schlagen aufhörte, war sie bis zwölf gekommen, und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein erwartungsvoller, fast flehentlicher Ausdruck. «Es scheint Mittag zu sein», erklärte sie. «Es wäre unhöflich, Hattie warten zu lassen.»
«Schon Zeit zum Essen?»
«Ich fürchte, ja», sagte sie und erhob sich aus ihrem Sessel. «Zeit, daß wir uns mit einer kleinen Mahlzeit stärken.»
«Geh schon mal vor, Tante Clara. Ich komme gleich nach.»
Während er Tante Clara aus dem Zimmer gehen sah, wurde Barber bewußt, daß das Gespräch mit einemmal beendet war. Schlimmer noch, erkannte er, es würde auch nie mehr von neuem beginnen. Er hatte seine Karten alle auf einen Schlag ausgespielt, und es gab keine weiteren Häuser mehr, mit denen er sie bestechen konnte, es gab keine Tricks mehr, mit denen er sie zum Reden bringen konnte.
Er schob die Karten auf dem Tisch zusammen, mischte den Stapel und spielte dann eine Partie Solitaire. Er nahm sich vor, so lange zu spielen, bis er gewann - und am Ende saß er länger als eine Stunde da. Das Mittagessen war längst vorbei, aber das schien ihm nichts auszumachen. Ausnahmsweise hatte er keinen Hunger.
Barber schilderte mir diese Szene, als wir im Speiseraum des Hotels beim Frühstück saßen. Es war Sonntag morgen, unsere Zeit war fast abgelaufen. Wir tranken noch eine letzte Tasse Kaffee, und als wir mit dem Aufzug nach oben fuhren, um Barbers Gepäck zu holen, erzählte er mir den Rest der Geschichte. Tante Clara sei 1943 gestorben, sagte er. Darauf sei Cliff House ordnungsgemäß an Hattie Newcombe übergegangen, die dort, über eine Heerschar von Kindern und Enkelkindern herrschend, die sämtliche Zimmer der Villa bevölkerten, bis ans Ende des Jahrzehnts in der zerbröckelnden Pracht gelebt habe. Nach ihrem Tod im Jahre 1951 sei das Anwesen von ihrem Schwiegersohn Fred Robinson an die Cavalcante Development Company verkauft worden, die das alte Haus dann gleich abgerissen habe. Achtzehn Monate später hätten zwanzig anderthalbgeschossige Häuser, alle vollkommen identisch, auf ebenso vielen morgengroßen Parzellen gestanden, in die man das Grundstück unterteilt habe.
«Wenn Sie gewußt hätten, daß das passieren würde», fragte ich, «hätten Sie es dann auch weggegeben?»
«Durchaus», sagte er, hielt ein Streichholz an seine erloschene Zigarre und paffte Rauch in die Luft. «Ich habe keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Zu solchen Extravaganzen haben wir nicht oft Gelegenheit, und ich bin froh, daß ich sie genutzt habe. Wenn ich’s recht bedenke, war es wohl eine der tollsten Sachen, die ich je gemacht habe, dieses Haus Hattie Newcombe zu
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