Mondberge - Ein Afrika-Thriller
Er hätte ihn nicht allein lassen sollen. Nicht in dieser Situation. Seine Mutter kam ihm in den Sinn. Sie kümmerte sich allein um alles.
Peter stand neben ihm, sah ihm tief in die Augen.
»Tom«, sagte er leise. »Was ist mit dir?«
»Er ist da.« Tom gingen die Worte über die Lippen, ohne dass er sie bewusst aussprechen wollte.
»Ich weiß«, antwortete Peter. »Ich sehe ihn nicht, aber ich weiß es schon lange. Er war die ganze Zeit da. Dies ist eine unheimliche Gegend«, fuhr Peter fort. Er schaute sich unsicher um. »Geister leben hier. Noch nie bin ich so tief in den Ruwenzori vorgedrungen. Man erzählt sich geheimnisvolle Dinge von hier. Geschichten von Geistern, von den Ahnen. Ganz tief in diesen Bergen sind sie zuhause. Sie zeigen sich nicht gerne.«
Ein Schauer lief Toms Rücken hinab. Konnte es diese Geister tatsächlich geben? Tom wehrte sich dagegen, von diesen Gedanken vereinnahmt zu werden und setzte sich wieder in Bewegung. Er wollte die Gestalt hinter sich lassen, stapfte also den Hang weiter hinauf, wich Wurzeln aus, stolperte über scharfkantige Steine, schob Pflanzen, die ihm die Sicht versperrten, zur Seite. Er war erschöpft, verschwitzt, dreckig und zerschrammt. Er spürte jeden Knochen in seinem Körper und hörte seine eigenen Gedanken rasen. Doch die Gestalt wurde er nicht los.
»Woran erkennt ihr, ob es gute oder böse Geister sind?«, fragte Tom mit belegter Stimme.
»Wir wissen es nie. Sie haben so viele Gestalten, so viele Stimmen. Wenn sie kommen, dann können wir ihnen nicht entgehen. Wir können uns ihnen nur stellen. Sonst ist der Rückweg verbaut.«
»Er spricht mit mir, aber ich kann ihn nicht verstehen.«
»Dann lass dich auf ihn ein, hör ihm zu, frage ihn.«
»Ich kenne ihn. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Was glaubst du?«
»Es ist mein Vater. Als er noch jung war. Er sieht ihm ähnlich.«
»Dein Vater? Ist er sehr krank?«
»Ja, er liegt im Sterben.«
»Vielleicht stirbt er gerade.«
Tom spürte eine unendliche Trauer aus der Tiefe seines Körpers aufsteigen. Tränen traten ihm in die Augen. Das durfte nicht sein. Nicht jetzt. Er wollte dabei sein. Sein Vater sollte wenigstens einen seiner Söhne an seiner Seite wissen, wenn er stirbt.
»Mach dir keine Sorgen, er wird bei dir bleiben. Für immer. Wer die Geister der Mondberge erst einmal in sein Herz gelassen hat, den lassen sie nie wieder los. Weder im Guten noch im Schlechten.«
Sein Vater hatte am Tag vor Toms Abreise nach Uganda mit einem Fotoalbum im Sessel gesessen. Bilder aus glücklicheren Tagen. Der Winter 1989. Die letzten Fotos von Jens. Seine Mutter hatte geweint. Nach so vielen Jahren hatte sie den Verlust des Sohnes immer noch nicht verwunden. Schuld. Tom spürte sie tief in sich bohren. Er war schuld. Und er hatte sich das niemals eingestanden. Er hatte mit keinem Menschen darüber gesprochen. Lud er jetzt eine neue Schuld auf seine Schultern, indem er seine Eltern mit der Krankheit des Vaters allein ließ? Sich wegen seiner eigenen Ziele durch die unwegsame Landschaft des Ruwenzori schlug, anstatt am Bett seines Vaters zu sitzen, mit ihm zu sprechen, seine Hand zu halten, bei ihm zu sein?
Tom blickte auf den Jungen, der immer noch ein paar Meter entfernt stand, sich dann jedoch abwandte und im Nebel verschwand. Tom war nicht sicher, ob er darüber froh sein sollte. Er glaubte nicht an eine übersinnliche Macht, er hatte Religion immer als eine Beruhigung der Massen angesehen. Seit Jahren hatte er keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt. Er war mit vielen Menschen zusammengetroffen, hatte viele Geschichten von Wunderheilungen und unterschiedlichsten Gottheiten vernommen, doch nie hatten ihn die Erzählungen berührt. Und jetzt trafen ihn die Erlebnisse und Peters Worte direkt ins Herz. Warum? Weshalb war ihm nicht schon bei seiner letzten Tour im Ruwenzori eine solche Gestalt begegnet? Er versuchte, die Gedanken daran abzuschütteln, doch er wurde das Bild nicht los. Hatte Peter Recht? Starb sein Vater? Musste er dann nicht sofort einen Weg aus den Bergen finden? Doch wie sollte das gehen?
Ein Schrei gellte durch den Nebel. Andrea. Was war da vorne los?
Die Sicht wurde wieder besser, erste Hügel waren erkennbar. Aber der Dunst verzog sich nicht ganz. Wie eine graue Schicht lag er weiterhin über der bergigen Landschaft und ließ der Sonne keine Chance, bis zu ihnen durchzudringen. Tom spürte, wie sich auch sein Kopf wieder ein wenig freier anfühlte. Der Schwindel und die
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