Mondberge - Ein Afrika-Thriller
die klare Luft.
40
Im Tal, zwei Tage vor dem Fest
Die beiden Lehrer umschlossen die kleine Gruppe. Kathya marschierte voran, in einer Reihe folgten die Jungen, den Abschluss bildete Mbusa. Kambere sprang geschickt über Felsen und Wurzeln, wich kleinen Bachläufen aus und kroch unter dicht stehenden Pflanzen hindurch. Sie gingen eine Weile auf einer Anhöhe entlang. Vor ihnen türmten sich die steilen Hänge der Berge auf, deren Spitzen unter der immerwährenden Wolkendecke verschwanden. Dann bog Kathya nach unten in den dichten Wald ab. Die üppige Vegetation gründete auf einem sumpfigen Untergrund, die Luft war frisch. Der Nebel wurde allmählich dichter, drang in Schwaden zwischen den Pflanzen hindurch, bis Kambere nach einiger Zeit die anderen Jungen vor sich nur noch erahnen konnte. Eine kleine schwarze Schlange wand sich auf dem Weg, und Kambere musste einen Bogen schlagen, um nicht auf sie zu treten. Gerade wollte er etwas schneller gehen, als er Mbusa hinter sich wispern hörte.
»Bleib ruhig. Sie werden dir nichts tun.«
Kambere blieb stehen. Was meinte Mbusa? Er sah sich vorsichtig um, doch er entdeckte nichts Ungewöhnliches. Allerdings war nun auch Mbusa im Nebel verschwunden. Er hörte seine Stimme noch, war sich jedoch nicht sicher, aus welcher Richtung sie kam. Dann vernahm er weitere Stimmen, die sich aufgeregt miteinander unterhielten. Es raschelte um ihn herum, als sei er umgeben von Tieren oder anderen Menschen, die langsam auf ihn zukamen. Ruhig bleiben, hatte Mbusa gesagt. Und Kambere vertraute ihm. Er atmete tief durch.
»Geh weiter«, vernahm er seinen Lehrer wieder. »Bleib nicht stehen.«
Kambere ging langsam weiter. Im Dunst meinte er nun die Silhouetten der Balindi zu erkennen, die sich undeutlich vor dem grauen Hintergrund abzeichneten. Sie trabten im gleichen Tempo neben ihm her, verschwanden zwischen den Pflanzen, tauchten dann erneut auf, blickten ihn hin und wieder an. Und dann hörte er eine bekannte Stimme.
»Kambere«, rief ihn die Stimme seines verstorbenen Großvaters mehrfach.
Kambere durchlief ein Frösteln, obgleich er wusste, dass er keine Angst haben musste. Auf seinen Großvater konnte er sich verlassen, er kam seit seinem Tod regelmäßig zu ihm.
»Eine große Aufgabe wartet auf dich. Und ich möchte, dass du sie annimmst.«
Kambere wandte sich um, aber außer den Balindi entdeckte er niemanden.
»Unser Volk tritt eine Reise an und wird neu geboren«, fuhr die Stimme fort. »Schon einmal war unser Volk großer Gefahr ausgesetzt. Damals habe ich die Menschen um mich gesammelt und in diese Gegend geführt. Jetzt ist es deine Aufgabe, unser Volk in eine neue Richtung zu lenken.«
Kambere wusste nicht warum, aber er spürte, wie bei diesen Worten eine wohlige Wärme in ihm aufstieg und sich allmählich in ihm ausbreitete, bis sie seine Finger und Zehen erreichte.
»Deine Gruppe ist noch nicht vollständig« fuhr die Stimme fort. »Dir wird ein Fremder begegnen. Du sollst ihn aufnehmen wie einen Bruder.«
Wer sollte das sein? Kambere kannte doch alle hier im Tal. Und angeblich wussten die Menschen außerhalb des Tals gar nichts von ihnen.
»Eine große Gefahr bedroht unsere Traditionen. Die Geister der Mondberge ziehen sich zurück. Sie werden das Tal verlassen, und ein Teil unseres Volkes wird untergehen. Du hast die Kraft, den Gefahren entgegenzutreten. Wenn du dein Ziel vor Augen hast, dann wirst du die richtigen Entscheidungen treffen.«
Die Worte wirbelten durch Kamberes Kopf und er versuchte, sie zu sortieren. Weshalb sollte gerade er sich irgendwelchen Gefahren entgegenstellen? Er hatte bislang nicht den Eindruck, dass er besonders mutig war. Baluku traute sich viel mehr. Er sprang von den höchsten Felsen in den See hinab, an Stellen, die Kambere viel zu gefährlich schienen.
Die Stimme lachte rauh. »Keine Sorge. Für die Aufgaben, die dir bevorstehen, brauchst du eine andere Art Mut.« Eine beunruhigende Pause folgte. Dann setzte die Stimme wieder ein. »Die Last wird dir schwer vorkommen, denn die Zukunft deines Volkes hängt an dir. Aber es gibt nur einen, der begabt ist, sich dieser Probe zu stellen. Hab Vertrauen und sei achtsam, wessen Rat du annimmst. Nicht alle klug klingenden Ratschläge sind auch wirklich weise.«
Die Stimme war leiser geworden, und der Nebel wurde allmählich lichter. Kambere rief seinen Großvater. Doch er bekam keine Antwort mehr. Ich bin nicht mutig! Ich weiß doch gar nicht, was ich tun soll, wollte er ihm nachrufen.
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