Mondberge - Ein Afrika-Thriller
fragte er ihn besorgt.
»Ja«, kam die Antwort sehr knapp.
»Wir schaffen das – du musst nur daran glauben.«
Mugiraneza schaute zur Seite auf den größeren Gefährten. Er nickte stumm.
»Wenn wir die Leute gefunden haben, dann gehen wir wieder runter von diesem Berg. Und dann finden wir einen Weg zu fliehen.«
Sie marschierten nebeneinander den steilen Hang hinauf. Hin und wieder berührten sich ihre Arme, manchmal sahen sie sich kurz an, doch lange sprach keiner der beiden ein Wort.
»Erinnerst du dich an den großen Platz in unserem Dorf?«, fragte Hitmana nach einer Weile. »Du hast dort mit deiner Schwester und deiner Mutter getanzt ... erinnerst du dich?«
»Ja.«
»Du wirst diesen Platz eines Tages wiedersehen. Und du wirst mit deiner Schwester auf dem Platz tanzen. Die anderen werden Musik spielen. Du wirst den Geruch der gebratenen Ziegen riechen, die ihr am Abend gemeinsam am Feuer essen werdet.«
Mugiraneza guckte Hitimana erstaunt an.
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja, Mugiraneza, das glaube ich. Die Geister beschützen uns. Sie sind immer bei uns.«
Mugiranezas Schritte wurden ein wenig fester. Seine Schultern hoben sich etwas, und er lächelte zwischen seinen Tränen hindurch. Doch dann zog ein dunkler Schatten über seine Augen.
»Meine Schwester ist tot. Ich habe selber gesehen, wie die Soldaten sie erschossen haben ...«, sagte er leise.
»Aber das bedeutet nicht, dass sie dich allein gelassen hat.« Hitimana sah seinen Freund an. Er legte ihm eine Hand auf den Arm. »Was haben dir deine Großeltern von den Ahnen erzählt?«
»Sie haben gesagt, dass sie immer bei uns sind, dass sie uns begleiten.«
»Dann sind sie hier. Dann ist deine Schwester auch hier. Ganz nah. Sie wird dich beschützen. Wenn du einmal das Gefühl hast, allein zu sein, dann schließ’ die Augen und erinnere dich an ihr Gesicht. Du wirst sehen, sie ist immer bei dir.«
»Sie hatte so schönes Haar. Und ihre Stimme hat mich immer beruhigt, wenn ich nachts Angst bekam.«
»Sie singt für dich. Immer wenn du es willst.«
»Hast du auch eine Schwester, die für dich gesungen hat?«
»Sie hat mich immer vor meinem kleinen Bruder beschützt, wenn der mich geärgert hat.« Hitimana musste lächeln, als er an sie dachte. »Ich konnte gegen meinen Bruder nie gewinnen. Ich bin dann immer zu meiner Schwester gelaufen und habe ihr alles erzählt. Sie hat mich in den Arm genommen, ist mit mir zu ihm gegangen und wir haben uns wieder vertragen.« Er meinte plötzlich ihren Geruch in seiner Nase wahrzunehmen.
»Lebt deine Schwester noch?«
»Nein, sie haben sie getötet.«
»Und ist sie bei dir? Beschützt sie dich?«
Hitimana hatte lange nicht an seine Schwester denken wollen, weil dann auch die Bilder wieder kamen. Der Überfall, die Schreie, das Feuer. Und das Blut. Überall war Blut gewesen. Als er jetzt an sie dachte, erschien ihr Gesicht vor ihm. Sie sah ihn mit ihren beinahe schwarzen Augen an.
»Ja, sie ist hier.« Er musterte Mugiraneza.
Der Schneefall nahm zu, und doch spürte Hitimana die Kälte nicht. Er spürte die Liebe, die ihn mit seiner Schwester, die tot war, und mit seinem Bruder, den er lebend wiederzufinden hoffte, verband. Und dann war da die Stimme. Erst klang sie weit entfernt, doch mit jedem Augenzwinkern kam sie näher, wurde klarer. Die Stimme seiner Schwester. Sie sang. Für ihn und für Mugiraneza. Als er zu Seite schaute, bemerkte er den erstaunten Blick seines kleinen Freundes.
»Was ist das?«, fragte der. »Da singt ein Mädchen.«
»Das ist meine Schwester. Sie singt für uns. Sie ist hier. Hab ich doch gesagt.«
Die beiden Jungen stapften weiter durch den tiefer werdenden Schnee den Berg hinauf. Neben ihnen lag der Gletscher wie ein schlafender Riese. In einer langen Kette liefen sie daran entlang, ohne zu wissen, was sie erwarten würde. Plötzlich gellte von oben aus dem Schneegestöber ein Schrei. Hitimana und Mugiraneza blieben stehen. Innnocent trieb sie augenblicklich weiter an.
Etwas später kamen sie an einem Trümmerfeld vorbei. Hitimana konnte durch den Schnee nicht viel erkennen, aber es schien so, als sei hier ein Flugzeug abgestürzt. Bevor er sich genauer umsehen konnte, wurden sie schon unbarmherzig weiter den Berg hinauf getrieben. Paul erschien auf einmal aus dem Nichts, lächelte beinahe glücklich, weil sie die Flüchtenden fast erreicht hatten und verschwand dann wieder im Schneetreiben. Hitimana meinte einen blassen Schatten hinter ihm zu sehen.
»Sie
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