Mondberge - Ein Afrika-Thriller
werden ihn einholen«, sagte eine Stimme dicht neben Hitimanas Ohr. Er wandte sich um und erschrak. Ganza, einer der älteren Soldaten, stapfte neben ihm.
»Die Geister werden Paul holen.« Er sah den Jungen düster an. »Sie waren ganz dicht hinter ihm.«
Ganzas Atem ging stoßweise, auch ihn strengte der Aufstieg sehr an. »Du weißt nicht, wo wir sind, habe ich Recht?«
»Was meinst du damit?«, fragte Hitimana zurück.
»Haben dir deine Eltern nie von dem Ort erzählt, an dem die Geister der Mondberge leben?«
In diesem Moment riss der Schneevorhang für einen Moment auf und gab einen kurzen Blick nach oben frei. Zwei gigantische Berggipfel türmten sich über ihnen auf. Schroff und kahl ragten sie aus dem ewigen Eis in den stahlblauen Himmel hinein. Bevor Hitimana genauer hinsehen konnte, peitschte ihm schon wieder Schnee ins Gesicht. Aber er hatte sie erkannt. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Das waren die Berge, von denen seine Eltern und Großeltern so oft gesprochen hatten. Das Herz des Ruwenzori . Hier waren die Geister der Mondberge zu Hause. Die Bergspitzen waren heilig, kein Mensch durfte dieses Gebiet betreten. Und doch wusste Hitimana, dass ihm selbst keine Gefahr drohte. Die Geister mussten wissen, dass er hierher gezwungen worden war. Und die sanfte Stimme seiner Schwester, die sich durch das Schneegestöber wieder einen Weg in sein Ohr bahnte, bestätigte ihn darin. Er war frei von Schuld.
»Beeilt euch!«, ertönte Pauls wütende Stimme von oben. Hitimana, Mugiraneza und Ganza rannten jetzt so schnell es ging durch den tiefen Schnee immer weiter auf den verbotenen Gipfel zu. Nach ein paar Minuten hatten sie völlig außer Atem den Anschluss an ihre Gruppe geschafft. Und dann sah Hitimana sie: Am Hang über ihnen keuchten die Europäer durch den Schnee. Paul zog seine Pistole aus der Hosentasche und zielte auf die Weißen. Aber der Schatten war schneller. Er tauchte aus der von Nebel und Schnee geschwängerten Luft auf, erfasste Pauls Kopf und tauchte ihn in die weiße Dunkelheit. Im selben Moment jagte ein Schuss über den Gletscher und sein Knall wurde vielfach von den umliegenden Felsen zurückgeworfen.
Paul stürzte in den Schnee. Der Schatten war genauso schnell wieder verschwunden wie er gekommen war. Innocent hechtete mit erhobenem Gewehr auf seinen Anführer zu, und Hitimana glaubte für einen Moment, er wolle Paul den Gletscher hinabstoßen. Auch die anderen rannten eilig auf Paul zu. Mugiraneza schien ebenfalls magisch von der Situation angezogen zu werden. Da wurde die Stimme in Hitimanas Ohren immer lauter. Seine Schwester. Sie sang. Aber es war nicht mehr der beruhigende Gesang wie noch ein paar Minuten zuvor. Sie warnte ihn. Hitimana streckte den Arm aus und hielt Mugiraneza zurück.
»Bleib hier!«, flüsterte er ihm zu.
Der Kleinere wandte sich erstaunt um. Wie ein dichter Vorhang legte sich in diesem Moment eine Nebelwand zwischen die beiden Jungen und die Gruppe der Soldaten, die der Mitte des Gletschers immer näher kamen. Sie verschwanden aus Hitimanas Sichtfeld, in das nun die Gestalt seiner Schwester trat. Sie sah ihn freundlich an. Und wies ihn und seinen Freund wortlos an, in die andere Richtung zu gehen. Hitimana schaute zur Seite. Mugiraneza musste sie ebenfalls sehen, denn er wich ängstlich zurück. Hitimana griff die eiskalte Hand seines Freundes und zog ihn mit sich. Gefahr braute sich dort oben zusammen. Und sie kam näher. Er riss Mugiraneza hinter sich her, sie verloren ihr Gepäck.
Dann hörte er ein leises Zischen durch den Sturm. Es wurde mit jeder Sekunde lauter und raste auf sie zu. Von oben. Sie liefen schneller. Der Wind peitschte ihnen um die Ohren, das Zischen wurde zu einem leisen Grollen, schwoll an, bedrohte sie, kam immer schneller hinter ihnen her. Im nächsten Moment hatten sie einige Felsen am Rande des Gletschers erreicht. Hitimana stieß seinen Freund unter einen Vorsprung, hechtete hinterher und entkam der zu einem Brüllen angewachsenen Gefahr im letzten Moment. Schnee ergoss sich über die Felsen, verdunkelte die Welt um sie herum, verschwand dann von vielen Echos begleitet in der Tiefe.
Als Hitimana wagte, die Augen wieder zu öffnen, die er in der Panik geschlossen hatte, bot sich ihm ein atemberaubender Anblick: Als habe es nie ein Schneetreiben gegeben waren die Wolken gewichen, der Himmel über ihnen leuchtete in einem klaren Blau, der Schnee glitzerte ringsum und die weiß-grauen Spitzen der benachbarten Gipfel stachen in
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