Mondberge - Ein Afrika-Thriller
zurückzuziehen. Auf dem Dachboden steht ein alter Kleiderschrank von meinen Großeltern. Jede Menge Kisten mit alten Fotos sind dort drin. Ich muss eine Weile suchen, bis ich finde, was Mutter haben will. Gerade als ich den Schrank wieder zumache, sehe ich, dass das Papier, mit dem der Boden beklebt ist, aufgerissen ist. Darunter ist eine Klappe zu erkennen. Ein Geheimfach. Das zieht mich magisch an. Es ist nicht groß, aber um einen Stapel Briefe zu verstecken reicht es.«
»Und das waren Briefe für dich?«
»Nein, diese Briefe waren an meinen Vater adressiert. An die alte Adresse meiner Großeltern. Sie waren alle ungeöffnet! Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Letztendlich habe ich sie mitgenommen und in meinem Zimmer versteckt. Dann bin ich mit den Fotos zu meiner Familie zurückgegangen. Am Abend habe ich Kopfschmerzen vorgetäuscht und mich früh zurückgezogen. Du kannst dir denken, was ich vorhatte. Die Briefe waren alle in Kampala abgestempelt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie von dieser Stadt gehört.«
»Hast du die Briefe gelesen?«, fragte Tom. Andrea sah ihn kurz an, dann nickte sie.
»Abgeschickt wurden sie zwischen März 1971 und Sommer 1973. Also vor meiner Geburt. Ich habe lange überlegt, dann aber den ersten Brief geöffnet. Die Schrift war schwer zu lesen. Und zuerst verstand ich nicht, worum es überhaupt ging. Erst als ich nach und nach auch die anderen Briefe geöffnet hatte, wurde mir einiges klar. Als ich meinen Vater ein paar Tage später darauf ansprach, fielen auch die restlichen Puzzleteile an ihren Platz. Das war ein Schock für ihn – und für mich.«
»Was hat er denn erzählt?«
»Mein Vater hat eine Zeit lang in Uganda gelebt. Bevor er meine Mutter kennen lernte. Er hat hier gearbeitet, auch noch, als Idi Amin sich 1971 an die Macht putschte.«
»Meine Güte! Hat er etwas mit den Gräueltaten hier zu tun gehabt?«
»Ich weiß darüber nichts Genaues. Vater musste schon nach kurzer Zeit das Land Hals über Kopf verlassen. Er hatte zu dem Zeitpunkt eine ugandische Freundin. Und ein Kind mit ihr!
Er sagt heute, er hätte die beiden mitnehmen wollen, aber er ist wohl eher geflohen als ausgereist. Er musste sie also zurücklassen, wollte sie aber später nach Deutschland zu sich holen. Uganda versank damals im Chaos, überall mussten die Menschen fliehen, niemand wusste, wo sich die eigenen Verwandten aufhielten. Auch mein Vater hatte keine Ahnung, wo seine Freundin und das Kind waren. Er konnte ihren Aufenthaltsort nicht herausbekommen. Und er hat auf Briefe gewartet. Aber die hat er nie bekommen. Ich vermute, dass meine Oma sie damals abgefangen hat.«
»Warum sollte sie das getan haben?«, wollte Tom wissen.
»Meine Großeltern waren alles andere als einverstanden mit Vaters Idee gewesen, in Uganda zu leben. Und eine Hochzeit mit einer ,dahergelaufenen Negerin‘, war für sie erst recht nicht vorstellbar. Also hat meine Oma alles getan, um den Kontakt zu unterbinden.«
»Und das ist ihr offenbar auch gelungen ...«
»Meinen Vater hat sie irgendwann vor die Wahl gestellt, entweder mit der Vergangenheit abzuschließen und ein neues Leben in Deutschland zu beginnen oder von der Familie verstoßen zu werden. Er war jung und verzweifelt, es gab schließlich keine Nachrichten aus Uganda. Die Medien berichteten nur von den vielen Menschen, die in den Wirren dieser Jahre alles verloren. Von ganzen Familien, die ausgelöscht wurden, wenn sich nur ein Familienmitglied bei Idi Amin unbeliebt gemacht hatte. Er musste davon ausgehen, dass seine Freundin und das Kind verschollen waren.«
»Wie hat sich dein Vater entschieden?«
»Mein Vater hat tatsächlich einen Schlussstrich unter diese Geschichte gezogen. Er hat meine Mutter geheiratet, zwei Kinder gezeugt und eine Familie gegründet. Er hat mir gesagt, dass er die Frau, die er hier in Uganda geliebt hat, nie vergessen hat. Erst als ich ihm die Briefe gegeben habe, hat er den Betrug seiner Mutter erkannt. Er hat seine Beziehungen spielen lassen und herausbekommen, dass seine damalige Freundin tatsächlich gestorben war. Aber sein Sohn lebt. Mein Halbbruder.«
Tom hatte aufmerksam zugehört. Als Andrea nun nicht weitersprach, fragte er: »Und nun will er diesen Sohn wiederfinden. Aber warum bist du dann hier? Warum ist dein Vater nicht selbst gekommen? Ist er krank?«
Andrea zögerte eine Weile, bevor sie antwortete.
»Sagen wir es mal so: Mein Vater kann unmöglich nach Uganda reisen – aus Gründen, die ich dir
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