Monde der Finsternis 03 - Mond der Ewigkeit
tatsächlich sechs Stunden geschlafen haben? Oder war sie in Trance gefallen? Nein, sie musste geträumt haben, sonst wäre sie nicht so schnell durch den Schaffner geweckt worden. Hinter ihren Schläfen pochte es schmerzhaft. Sie ließ ihren Blick durch das Abteil schweifen. Alles war wie vorher und beruhigend normal. Derart aufwühlende Träume hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Mit Revenants Verbannung in die Schattenwelt waren sie abgerissen. Sie dachte mit Entsetzen an Hermits Befürchtungen, jemand könnte das Schattentor öffnen.
Sie hätte die Kräfte gespürt. Es war ein Albtraum, mehr nicht. So was kam vor. Es war gut, dass sie Gealach für eine kurze Zeit verließ. Carole und die Suche nach ihrem Vater würden sie auf andere Gedanken bringen.
Londons vertraute Umgebung war Balsam für ihre Seele. Nichts schien sich in den letzten zwei Jahren verändert zu haben. Das kleine Bistro in der Victoria Station bot noch immer die beliebten Funnel Cakes an, die sie damals heißhungrig verschlungen hatte, wenn sie von den Theaterproben zurückgekehrt war. Als wäre in London die Zeit stehen geblieben, während sich in Gealach und ihrem Leben die Ereignisse überschlugen.
Aus allen Richtungen strömten Menschen in den Bahnhof. Nadelstreifenanzüge verrieten die Businessleute. Schülerinnen in dunkelblauen Uniformen zwängten sich wie eine schnatternde Gänseschar durch die Schlange Wartender vor der Information. Amber lächelte, denn es erinnerte sie an ihre Schulzeit, in der sie auch regelmäßig mit dem Zug hierher gefahren war. Mütter mit vollen Einkaufstüten und schreienden Kindern an der Hand hasteten zu den Gleisen.
Die Rushhour mit ihrem pulsierenden Leben versetzte Amber fast in Euphorie. Wie sehr hatte sie all das vermisst. Sie fühlte sich lebendiger denn je, ihre Sorgen rückten in weite Ferne. Sie wurde von den Reisenden vom Bahnsteig in die Bahnhofshalle mitgerissen. Das Stimmengewirr schallte weit durch die Halle, in der locker ein dreistöckiges Haus Platz gefunden hätte.
Ihr Blick suchte in der Menge nach Carole, konnte sie aber nirgends entdecken. Wahrscheinlich wartete sie auf dem Parkplatz, denn sie mied Menschenansammlungen. Amber schob sich durch einen Pulk Wartender vor dem Schalter zum Ausgang und atmete erst auf, als sie das Bahnhofsgebäude durch den Torbogen verließ. Wie oft hatte sie sich hier von Charles abholen lassen, um mit ihm zu den Theaterproben zu fahren. Wenn sie nur an das Herzklopfen vor jedem Treffen dachte. Nur bei Aidan hatte sie es intensiver erlebt. Wie immer, wenn sie in letzter Zeit an ihn dachte, blieb ein bitterer Nachgeschmack zurück.
Charles war so ganz anders als er, auch ein gut aussehender Mann und von vielen Frauen begehrt, aber ihm fehlte das Charisma, das sie bei Aidan vom ersten Moment an gefesselt hatte. Er spürte, wenn sie betrübt war, während Charles nie gefragt hatte, was sie verletzen könnte.
Schluss jetzt, sie war hier, um Abstand zu finden und sich den Recherchen zu widmen und nicht, um über Männer nachzudenken.
Sie lief zum Parkplatz, der nicht weit entfernt lag. Ihr Koffer wurde immer schwerer, weshalb sie sich schimpfte, aber auf die Bücher mit ihren Aufzeichnungen und den Runenhölzern konnte und wollte sie nicht verzichten.
Sie wollte gerade die Straße überqueren, als jemand ihren Namen rief
„Amber? Amber Stern? Das glaub ich jetzt nicht.“
Eben hatte sie noch an ihn gedacht und schon war er hier. Amber drehte sich langsam um. „Hallo, Charles“, begrüßte sie ihn kühl. Er sah noch immer unverschämt gut aus, selbst in dem grauen Flanellanzug mit den blank gescheuerten Ärmeln und den ausgebeulten Knien. Charles arbeitete als Rechtsanwalt in einer Kanzlei in Kensington, Überstunden gehörten zur Regel, selbst wenn seine gebräunte Haut und Fröhlichkeit den Anschein erweckten, als wäre er erst aus dem Urlaub zurückgekommen. Er hatte sich nicht verändert.
„Du in London? Was führt dich her? Du siehst hinreißend aus. Dieses Glänzen in deinen Augen.“ Seine Worte wirkten, als hätte er sie auswendig gelernt.
„Danke.“ Dir ist früher schon mal ein originelleres Kompliment eingefallen, ergänzte sie in Gedanken.
„Bist du in Begleitung?“ Er blickte über ihre Schulter.
„Nein.“
„Kein Freund, Verlobter, Ehemann?“
Ja, gibt es, aber er ist ein Vampir. Amber verkniff sich ein Grinsen. Sie hätte gern seine Reaktion auf diese Worte erlebt. Aber ihr Privatleben ging ihn nichts an. Sie waren
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