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Mondglanz

Mondglanz

Titel: Mondglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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übergroß in seine Augen geschrieben, und die Antwort ist: Ja. War und wird es immer sein.
    »Verdammt richtig.«
    »Mutter Maria«, keucht er. »Wie du leuchtest!«
    Ich schüttle den Kopf. »Das Licht kommt von dir. Du kannst es nur nicht sehen, weil du selber im Dunkeln sitzt. Ich reflektiere es nur.«
    Das klingt nicht wie etwas, das ich sagen oder auch nur denken würde, auch wenn es wahr ist. Selbst an meinen besten Tagen bin ich keine Philosophin. Ich bin ein brodelnder Kessel, voller Impulse und vorschneller Urteile. Jetzt, da ich weiß, wie ich gezeugt wurde, kann ich behaupten, dass der Grimspace schuld an meinem Temperament wäre. Ja, im Gegensatz zu allen anderen Springern wurde ich dort gezeugt, aus einer Laune meiner Mutter heraus, die ständig auf der Suche nach dem nächsten Kick war. Doc meint, der Grimspace hätte meine DNA verändert, mir eine spezielle Mutation beschert, die es meinem Körper ermöglicht, den Schaden zu reparieren, den der Grimspace in meinem Gehirn anrichtet. Andere Springer gehen daran zugrunde. Aber nicht ich. Ich überlebe und schlage weiter um mich und richte jede Menge Schaden an mit meinen unkontrollierbaren Stimmungsschwankungen.
    Vielleicht liegt es ja an dem Chip, dass ich plötzlich besser in Worte fassen kann, was ich fühle. Oder es ist eine schleichende Entwicklung, die ich bisher nur noch nicht bemerkt habe. Nichts bleibt gleich, nicht einmal ich.
    Marsch schließt die Augen, und ich spüre förmlich, wie er sich den Kopf zermartert, als stünde er vor einer einschneidenden Entscheidung. Ich hoffe nur, sie bricht mir nicht das Herz.
    Endlich atmet er mit einem kleinen Seufzer aus und steht auf. »Du willst also wirklich wissen, wie es in meinen Träumen aussieht? Ich zeig’s dir.«
    Nackte Angst kriecht mir den Rücken hinauf. Ich habe keine Ahnung, wie schlimm es werden wird. Irgendwie ringe ich mir ein Lächeln ab.
    »Dann tu es«, flüstere ich.
    Und er tut es. Eine Wand aus Eis schießt in meinem Kopf empor. Zwei Seelen, die miteinander ringen und dann verschmelzen zu … uns.
    Es beginnt.

28
    Der Gestank von verwesendem Fleisch schlägt mir entgegen.
    Es riecht wie in einem Leichenschauhaus, in dem die Kühlung ausgefallen ist. Die Toten sind überall, stapeln sich so hoch, dass ich mich kaum hindurchzwängen kann. Meine Stiefel versinken in totem, matschigem Fleisch, das von den Knochen der Leichen fällt. Mein erster Impuls ist, schreiend die Flucht zu ergreifen, aber ich bin nicht allein hier, und meine andere Hälfte – die Marsch-Hälfte – weiß, dass sie noch eine Aufgabe zu erledigen hat …
    Noch mehr töten!
    Verdammt, ich kenne diesen Ort. Die Szenerie erinnert an mythologische Darstellungen von dem, was wir Hölle nennen, aber ich war schon einmal hier: Als ich es endlich aus dem Tunnelsystem der Gunnar-Dahlgrens geschafft hatte, schätzte ich mich glücklich, noch am Leben zu sein. Ich hatte keine Ahnung, in was für einem Inferno ich Marsch damals zurückließ, sonst hätte ich es nicht getan. Ich hätte härter gekämpft, ihn angebettelt, mit mir zu kommen. Ich hätte alles versucht, damit er das hier nicht durchmachen muss.
    Seine bedingungslose Entschlossenheit ist stärker als mein Widerwille, und wir gehen weiter. Schritte hinter uns sagen mir, dass wir nicht allein sind. Es sind Marschs Erinnerungen, ich habe keinen Einfluss auf das, was geschieht. Wir marschieren durch die dunklen Tunnel auf der Suche nach Widerstandsnestern. Die meisten der McCulloughs, die hier unten festsitzen, sind verwundet, und sie hungern.
    Aber das ändert nichts an Marschs Entschluss. Sie sind der Feind, und deshalb müssen sie sterben. Er kniet sich neben einen jungen Kämpfer, dessen riesige Augen im Schein eines Leuchtstabs schimmern, den jemand über ihn hält. Sein Gesicht besteht nur noch aus Ecken und Kanten. Eine Reißbrettstudie dessen, was Krieg aus einem Menschen macht.
    Mit brüchigen Lippen versucht er, ein Wort zu artikulieren. »Bitte …«
    Ich will nicht sehen, was jetzt kommt, aber ich bin Marschs Erinnerungen ausgeliefert und kann den Kopf nicht wegdrehen. Er wird keinem anderen den Befehl geben, es zu tun. Das Blut soll allein an seinen Händen kleben. Er zieht ein Messer aus der Stiefelscheide.
    Der Soldat scheint zu wissen, was ihm bevorsteht, denn er versucht wegzukrabbeln. Aber seine Gliedmaßen tragen ihn nicht mehr, und so bricht er wieder zusammen.
    Marsch rollt ihn auf den Rücken, und mit einer geradezu perversen Präzision hält

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