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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Spies
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aufrichteten. Vielleicht spürten sie seine Gegenwart. Später würden sie glauben, dass es das unheilige Herumirren des Mädchens gewesen war, das sie aufgeschreckt hatte. Sie hing schlaff wie eine Puppe über seiner Schulter. Ihr Körper war so zart, dass sie ihn kaum beeinträchtigte. Rasch erreichte er wieder die Pforte.
    Die Pförtnerin war noch bewusstlos. Er legte den Krug neben ihr ab, als wäre sie damit niedergeschlagen worden. Lautlos trug er seine Last durch den Klostergarten. Dann war er an der Mauer. Das Klettern war mit dem Mädchen deutlich beschwerlicher, doch Miklos wartete auf der Mauer und nahm ihm seine Last ab, sobald er hoch genug war. Zu zweit bereitete es ihnen keine Probleme, die Besinnungslose sanft zu Boden gleiten zu lassen und in die Schaluppe zu betten. Behutsam streifte Gábor ihr das Nachthemd vom Körper und wickelte sie in einen Mantel. Wieder stöhnte sie leise, doch sie erwachte nicht. Er warf ihr Hemd zurück über die Mauer. Morgen früh würden die Nonnen es finden. Das Mädchen wäre nicht die erste Patientin, die ihrem Leiden mit dem Gang ins Wasser ein Ende setzte.
    Er packte das zweite Ruder und nickte Miklos zu. »Zurück nach Pest!«
    Kamenica, Juli 1455
    Der helle Ruf eines Vogels lockte sie aus ihrem Schlaf.
    Veronika schlug die Augen auf und sah sich verwirrt um. Ihre Erinnerung war ein bloßer Schatten, ein schläfriger Umriss, der sich zwar nach ihr ausstreckte, es aber noch nicht schaffte, seine unbarmherzigen Finger in ihre Gedanken zu krallen. Erstaunt nahm sie ihre Umgebung wahr. Die Wände waren karges Mauerwerk, das Lager ein Strohsack. Das sanfte Licht der Abendsonne zeichnete ein eckiges Muster an die Wände, ein vergrößertes Abbild der Fensterluke und ihrer scharfkantigen Gitterstäbe.
    Vorsichtig setzte sie sich erst auf und erhob sich dann. Sie fühlte sich schwach, und ihre Glieder schmerzten wie nach einer langen Krankheit. Ohne Vorwarnung packte sie die Erinnerung und ließ sie taumeln. Die Bestie in der Kapelle, der tote Pater. Stöhnend griff sie nach der Wand, suchte nach einem festen Halt. Das Ungeheuer hatte sie gebissen, doch sie lebte noch. Dumpf erinnerte sie sich an Fieberträume. Als sie das Hemd zur Seite schob, entdeckte sie an ihrer Schulter nur eine verblasste Narbe. Wie lange hatte sie auf dem Krankenbett gelegen? Und wo war sie überhaupt? Der Blick aus der vergitterten Fensterluke zeigte nicht viel. Ein Innenhof, die Mauern von Efeu überwuchert. Niemand war zu sehen. Sie traute sich nicht zu rufen.
    Die Tür hing schief in den Angeln, ließ sich jedoch ohne Widerstand öffnen. Auf bloßen Füßen schlich sie auf den Gang hinaus. Es war dämmrig hier und genauso verlassen wie im Innenhof. In den Ecken wuchs Moos, und Unrat lag überall herum. Sogar die Steine schienen Verfall auszuatmen. Fast fühlte sie sich, als wäre sie der letzte Mensch, der auf Erden übrig geblieben war. Obwohl die Luft warm war, fröstelte sie. Wo sollte sie hin?
    Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als ein Mann um die Ecke bog. Er erblickte sie im selben Augenblick und beschleunigte seinen Schritt. Sie keuchte auf. Es war der Mann, der die Bestie auf den Pater gehetzt hatte, der Mann mit den dunklen Augen! Mit einem Ruck fuhr sie herum und rannte in die andere Richtung. Spitze Steine verletzten ihre Füße, doch sie spürte es kaum.
    Der Gang schien plötzlich aufzuhören. Sie japste vor Schreck. Doch dann sah sie, dass er nur einen scharfen Knick nach links vollführte und nach etwa zwanzig Fußlängen in eine Treppe mündete. Sie rannte schneller, spürte, wie sich Schweißtropfen unter ihrem Hemd sammelten. Hinter sich hörte sie die raschen Schritte des Mannes. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie hinunter, achtete nicht auf die tödliche Gefahr, die ein Stolpern auf der steilen Treppe bedeuten konnte. Unten war eine Tür, die ein Stück offen stand. Dahinter zeichnete sich im Schein der Abendsonne ein gepflasterter Weg ab. Mit einem letzten Satz warf sie sich gegen die Tür. Der Schwung schleuderte sie draußen auf die Knie, doch sie rappelte sich hoch. Der Weg führte in einen Hain von Apfelbäumen, die in vollem Laub standen, dahinter war ein dichter Wald zu erkennen. Nur dort hinein, dann könnte sie sich vielleicht verstecken!
    Jemand packte sie am Arm und zerrte sie herum. Ein blonder Kerl, der vor der Tür Wache gestanden hatte. Rote Narbenschluchten zerfurchten seine Stirn und Wangen, verunstalteten ihn zu einem Ungeheuer. Sie taumelte

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