Mondherz
waren ihr überlegen, doch plötzlich hatte sie keine Angst mehr. Wie sie das alles satthatte. Konnten die beiden denn nicht sehen, wie schädlich ihr gegenseitiger Hass war?
»Auf Mathias gab es einen Anschlag«, informierte sie Michael ruhig und bestimmt. »Ihr müsst herausfinden, wer es war. Und jetzt geht. Lasst mich in Ruhe!«
Für einen Moment verharrten beide Männer reglos. Hatte sie einen Fehler gemacht? Ihr Herz stockte. Ihr Blick wanderte zu Michaels Hand, in der er immer noch den Dolch hielt. Langsam, viel zu langsam, ließ er ihn sinken. Dann drehte er sich tatsächlich um und ging. Erleichtert atmete sie aus. Sie ignorierte seinen finsteren Blick, als er die Tür zuzog. Bald war sie von hier fort. Er würde ihr nicht fehlen.
»Du willst zu den Roma?« Gábors Stimme klang brüchig.
Es fiel ihr schwer, ihn anzusehen. Sie nickte.
»Ich kann dich verstehen«, sagte er zu ihrer Überraschung. Er steckte den Dolch weg und ließ die Arme hängen. Seine schmalen Handgelenke sahen seltsam verletzlich aus. Endlich sah sie ihm wieder in die Augen, in die dunklen Tiefen, die sie zu verschlingen drohten.
»Ich möchte dich nicht gehen lassen.« Plötzlich war er bei ihr und fasste sie an der Hand. »Es ist nicht wegen der Prophezeiung, es ist …« Er stockte. »Ich möchte dich beschützt sehen. Die Welt dort draußen ist gefährlich, für dich vielleicht noch mehr als für einen Menschen. Pavel und die anderen Ältesten werden dich nicht vergessen.«
Und ich auch nicht,
sagten seine Augen. Er hielt ihre Finger so fest, dass es ihr weh tat, doch es war ein schöner Schmerz. Eine Folter war es hingegen, ihre Hand von ihm wegzuziehen. Ihre Wölfin jaulte auf.
»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
Sie musste gehen, nicht morgen, sondern jetzt sofort. Bevor sie auf ihre Wölfin hörte, bevor sie doch hierblieb. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie die wenigen Habseligkeiten überprüft hatte, die sie mitzunehmen gedachte. Es reute sie nicht, den Tand zurückzulassen, mit dem Michael sie reichlich beschenkt hatte.
Stumm gingen sie die Gassen zur Donau hinunter. Die Nachtwächter, die Gábor kannten, behelligten sie nicht. Trotz der späten Stunde fanden sie einen verschlafenen Fährmann, der sie für teure Gulden nach Pest hinüberruderte. Immer noch redeten sie kaum, doch sie spürte Gábors bohrende Blicke auf ihrer Haut. Würde er sie wirklich gehen lassen? Ein Teil von ihr hoffte es, ein anderer wünschte sich das Gegenteil.
Wenig später hatten sie Pest hinter sich gelassen und gingen den Waldpfad zum Romalager entlang. Auch der Wald schien zu schweigen, und die Sommerluft war unter dem Laubdach feucht und drückend. Als Veronika den Schein der Feuerstellen zwischen den Bäumen erblickte, beschleunigte sie ihren Schritt. Einige Roma waren noch wach, sie sah ihre schwarzen Schemen vor den tanzenden Flammen sitzen. Die Männer erhoben sich, als die Neuankömmlinge in den Lichtschein traten.
Zuerst suchte sie nach Solana und ihrem neugeborenen Sohn, doch sie war nirgends zu sehen.
»Sie schläft.« Senando war zu ihr getreten, und er hatte ihren Blick richtig gedeutet. Sein Lächeln war das eines stolzen Vaters. Doch ehe er weitersprechen konnte, keuchte Veronika auf. Sie hatte den Mann hinter ihm erkannt.
»Paulo!«, rief sie. Über den Ereignissen der letzten Stunden hatte sie ganz die Nachricht vergessen, dass er wieder da war. Wie froh sie war, dass er lebte, dass sie nicht schuld an seinem Tod auf Michaels Feldzug war. Ehe der Flöter etwas sagen konnte, war sie heran und warf die Arme um seine Schultern.
»Seit wann bist du hier?«, rief sie. Dem Flöter schienen immer noch die Worte zu fehlen. Er sah von ihr zu Gábor, der neben sie getreten war.
»Seit zwei Tagen«, erwiderte Gábor an seiner Statt.
Überrascht fuhr sie zu ihm herum. »Woher weißt du davon?«
Senando, der neue Baro Rom, kam hinzu. Er legte Paulo eine Hand auf die Schulter, hielt jedoch Abstand zu Gábor, wie sie bemerkte.
»Miklos und Pavel haben ihn aus türkischer Gefangenschaft befreit«, sagte Gábor. »Und Miklos hat ihn mit einem Brief zu mir geschickt.«
»Miklos?«, sie riss die Augen auf. Ihre Augen wanderten von Gábor zu dem Flöter, der immer noch wie erstarrt schien. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte sie Gábor leise. »Du …« Sie verschränkte die Finger, um ihr Zittern zu verbergen. Er hatte sich nicht geändert.
Gábor schien ihren enttäuschten Blick richtig zu lesen. Er
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