Mondkuss
abzuholen. Als sie an der Buchhandlung vorbeikam, ging sie kurz entschlossen hinein und kaufte das Buch „Leidenschaftlich lebendig.“ Hastig, ganz so, als hätte sie Angst bei etwas Verbotenem erwischt zu werden, steckte sie es in ihre Tasche … ganz nach unten … und ging eiligen Schrittes weiter. Sie ging durch die belebten Straßen von Frankfurts Innenstadt, doch sie sah nicht viel. Ein fremder Zustand. Ihre Gedanken kreisten um Rafael, und sie versuchte zu ergründen, was dieser junge Mann von ihr wollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie so etwas wie Angst. Ein sinnlicher Schatten hatte sie gestreift, ihre Haut fühlte sich heißer an als sonst und schien dort zu glühen, wo Rafael sie kurz zuvor leicht berührt hatte. Das Blut zwischen ihren Beinen pochte, Spuren von Nässe hafteten in ihrem Höschen. Panik erfasste sie. Sie fühlte sich wie unter einem fremden Bann stehend. Einem mächtigen Bann, dem sie nicht zu entkommen schien. In der City pulsierte das Leben. Schemenhaft nahm sie das bunte Treiben in sich auf. Jugendliche trafen sich in Cafés, schwatzten, flirteten. Neckende Blicke, gestylte Frisuren, knappe Tops über jungen runden Brüsten. Lachen, Lebhaftigkeit und eine beneidenswerte Unbefangenheit. Erste Küsse, Händchenhalten, Verliebtheit. Alles schien so herrlich normal. Und passte somit ganz und gar nicht zu ihrem durcheinandergeratenen Innenleben. Als sie Ruths Galerie erreichte, fühlte sie sich, als habe sie einen langen, anstrengenden Marsch durch eine fremde unwegsame Gegend hinter sich. Sie seufzte leise auf, setzte einen unbefangenen Gesichtsausdruck auf und betrat die Galerie, in der das Bild, das so gar nicht in ihre Wohnung passte, auf sie wartete.
Kapitel Vier
Helena hockte im Garten und zerrte an einer unnachgiebigen Wurzel, der einfach nicht beizukommen war. Es war die Wurzel eines Essigbaumes, der hier einmal gestanden hatte, die sich nun beharrlich weigerte, den vertrauten Standort zu verlassen.
Sie liebte das Gefühl, wenn sich die fingerdicken verzweigten Wurzelstücke aus dem Erdreich entfernten und dadurch Platz schufen, um Pflanzen des Herzens ein neues Zuhause zu geben. Sie mochte Pflanzen aller Art. Blühende, Immergrüne und Kräuter. Ihr Herz jedoch gehörte den Lilien. Ihre Schönheit, ihr stolzer Wuchs, der Anblick ihrer Blüten, wenn sie sich der Sonne entgegenstreckten, ganz so, als seien die Sonnenstrahlen nur für sie bestimmt. Ihre Schönheit – edel und majestätisch – übertraf aus der Sicht Helenas sogar die stolze Rose. Sie empfand das Maß ihrer Schönheit als überirdisch und liebte die makellose feine Glätte der Blütenblätter, die sich mit dem besten Marmor vergleichen ließen – der jedoch im Gegensatz zum prall-bunten Leben der Lilie kalt und tot war.
Helena seufzte. Nun saß sie inmitten des Gartens, in dem unzählige Lilien, Ringelblumen, Rosen, Farne, Hortensien, Lorbeer- und Lavendelstauden, Thymian und viele weitere Pflanzen in voller Pracht standen, und kämpfte sich mit dieser widerborstigen Wurzel ab, die einfach nicht loslassen wollte. Sie erhob sich, stemmte die Hände in die Hüften und fluchte leise. Bevor sie einen weiteren Versuch starten konnte, tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter, und bevor sie sich umschauen konnte, legten sich zwei Hände auf ihre Augen. „Na, meine Pflanzenfee, tauschst du Leinwand und Pinsel mal wieder mit dem Reich der Blüten?“ „Rafael!“ Helena lachte, schob seine Hände beiseite und wandte sich zu ihm um. „Du strahlst, als sei dir die Verheißung persönlich begegnet. Was ist los? Und wie kommt es, dass du eine Kundin versetzt?“ Rafael zwinkerte ihr zu. Sein Blick jedoch war nachdenklich. „Weißt du, da ist so ein kleiner Schmetterling, der tanzt und flattert in meinem Bauch umher. Zwischendrin hält er still, als wolle er horchen wie sich das für mich anfühlt, und dann wirbelt er hemmungslos weiter.“ „So, so. Ein Schmetterling!“ Helena blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Finger hinterließen dabei eine Spur aus Blumenerde. Lächelnd wischte Rafael die Erdkrumen von ihrer Wange und fuhr fort: „Ich kann sagen, dass dieser Schmetterling in meinem Bauch – ach was, es ist ein ganzer Schwarm – tänzerisch sehr begabt ist. Er hat meine Seele gestreift. Und ich möchte diesem wunderbaren Gefühl folgen. Diesem Gefühl, dass er schon beim ersten Anblick in mir auslöste. Beim Anblick dieses Zauberwesens, das alles in mir zum Schmelzen brachte …
Weitere Kostenlose Bücher