Mondkuss
abseits vom Haus. In der Mitte standen zwei Staffeleien – eine große und eine etwas kleinere. Über die ganze Breite einer Wand erstreckte sich ein Regal, auf dem Farben, Pinsel, und diverse andere Malutensilien standen. Ein großer Koffer mit Skizzenblöcken und Malkreide lehnte zusammen mit Leinwänden verschiedener Größen an der Wand, eine große Arbeitsfläche vervollständigte das Atelier, und mehrere Fenster sorgten für genügende Lichtverhältnisse. Das perfekte Atelier, wie Helena fand. Auf einer der Staffeleien stand – mit dem Rücken zum Eingang – eine Leinwand. In den letzten Wochen und Monaten hatte Helena fieberhaft an diesem Zyklus, den sie „Träume“ nannte, gearbeitet. Sie hatte jede Unterbrechung vermieden, ja sogar die Zeit des Schlafens bereut, weil dadurch kostbare Zeit verloren ging. Doch dann war sie ins Stocken geraten. Die ersten beiden Bilder waren fertig und nun, beim dritten hakte es gewaltig. Da sie an den Sinnspruch der Franzosen: ‚Verlässt du die Kunst auch nur einen Tag, verlässt sie dich für drei’ glaubte, war diese Tatsache eine mittlere Katastrophe. Schon seit Tagen hoffte sie vergeblich auf die Rückkehr der Muse – der Kunst – die sie so schmählich verlassen hatte und überhaupt nicht an Wiederkehr zu denken schien. Sie hasste diese kreative Lähmung, und noch mehr hasste sie die Lethargie, mit der sie diese Lähmung in den letzten Tagen hinzunehmen schien. Helena liebte die Verheißung der Möglichkeiten, die eine frische Leinwand ihr bot, aber in den letzten Tagen war davon nichts zu spüren gewesen und je länger sie nicht malte, um so mehr erschien es ihr wie eine versäumte Pflicht, statt einer Berufung. Eine Tatsache, die eine weitere Blockade hervorrief. Die leere Leinwand wirkte deprimierend auf sie, und fast hatte sie den Eindruck, sie würde klagend zu ihr herübersehen, darauf lauernd, nur einen winzigen Moment zu erhaschen, um ihr schlechtes Gewissen zu verstärken. Deswegen hatte sie ein feuerrotes Tuch darüber geworfen. Kathrin lief zur Staffelei und lüftete das Tuch. „Den Blick kannst du dir sparen. Es wird dich nämlich lediglich eine leere Leinwand angrinsen, die nur darauf wartet, dir ihr Leid zu klagen.“ „Eine Leinwand, die ihr Leid klagt? Muss ich das verstehen?“ Kathrin runzelte die Stirn. „Man merkt, dass du keine Künstlerin bist“, warf Sabina ein. „Es geht hier um das Leid der erwartungsvollen leeren Fläche, sich vom Künstler vernachlässigt vorzukommen. Ich kenne dieses Gefühl sehr gut.“ Sabina entwarf Kindergeschichten, die sie selbst illustrierte. Bevor Helena zu Leonard gezogen war, hatte sie sich mit Sabina ein Atelier in der Stadt geteilt. Da sie die Erfolgsleiter immer höher kletterte, führte sie das Atelier nun alleine und nutzte den vorderen Raum als kleinen Shop, in dem man ihre Werke erstehen konnte. „Na, wenn das so ist“, brummelte Kathrin. „Tja, dies ist die Leinwand für den letzten Teil meines Zyklus „Träume“ und ich muss euch nun gestehen, dass ich einfach nicht weiterkomme. Ich stecke in einer gewaltigen Blockade und je länger sie dauert, desto demotivierter bin ich, überhaupt wieder einen Pinsel anzufassen.“ „Ach Süße, das hört sich aber gar nicht gut an. Gibt es einen Auslöser? Ärger, oder so?“ Kathrin ließ das Tuch wieder über die Leinwand fallen. „Nein. Nichts dergleichen. Das ist es ja, was mich verwundert … und ehrlich gesagt auch ängstigt. Gäbe es einen Auslöser, könnte ich etwas tun. So aber bin ich ratlos.“ „Zeig uns doch mal die beiden ersten Teile“, bat Sabina. Helena lüftete einen dunkelroten Samtvorhang, der den Blick auf zwei verhüllte Leinwände verbarg. „Okay. Aber bitte ganz ehrlich sein, ja?“ „Waren wir jemals unehrlich zueinander?“ Helena schüttelte den Kopf, dann atmete sie tief durch und enthüllte zunächst den ersten Teil des Zyklus. Kathrin und Sabina brachen in Begeisterungsrufe aus. „Genial.“ „Das ist ja fantastisch.“ Das Bild zeigte eine Frau, die einen Morgenmantel trug. Sie stand an einem Fenster und schaute hinaus. Wehende Vorhänge umrahmten sie. Auf dem Boden lagen Blumen, ein Brief und Fotos. Die Frau hielt den Morgenmantel vorn mit ihrer linken Hand zusammen. Er floss in leuchtenden Bahnen über ihre Schenkel, und der Saum lag auf dem Boden neben ihren Füßen. Das Licht im Zimmer dieser Frau war intensiv – das gesamte Bild war in den unterschiedlichsten Violetttönen gehalten. In der Haltung der Frau
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