Mondlaeufer
Achselzucken. »Sie wollen unbedingt, dass ihr Prinzenreich zu unserem kommt. Lieber zu uns als zu Cunaxa.« Er brach abrupt ab, weil ihm bewusst wurde, dass auch Tilal einen Anspruch auf Firon hatte.
Sein Cousin grinste ihn an: »Lieber zu dir als zu mir!«
»Wirklich? Du willst es nicht haben?«
Tilal erschauerte übertrieben. »Ich da oben in all dem Schnee? Willst du mich umbringen?«
»Es schneit dort aber nicht immer«, erinnerte ihn Pol.
»Es schneit genug. Ich will Firon nicht, Pol. Ich habe das auch meinem Vater gesagt. Es ist zu weit weg von … von allem.«
Wovon Firon zu weit weg war, blieb offen, doch Pol bohrte nicht nach. »Gut, das ist deine Meinung … Aber ich kenne nicht allzu viele Leute, die angesichts eines Prinzenreiches die Nase rümpfen würden. Los, lass uns etwas essen und dann die Falken besuchen. Mutter sagte, sie hätte mir einen gekauft, und ich konnte ihn mir bisher noch gar nicht ansehen.«
Sie wählten ein paar Leckerbissen aus und aßen, während sie zum Wald hinaufstiegen. Pol wollte die Gegend ohne die ständige Bewachung durch Maarken und Ostvel erkunden, und so schlichen die beiden vor ihrem Besuch bei den Falken erst durch Bäume und Unterholz. Tilal machte ein Spiel daraus, Pol ein paar Grundzüge über das Jagen im Wald beizubringen, was diesem Wüstensohn so völlig fremd war.
»Du musst mal im Herbst nach River Run kommen, dann zeige ich dir, wie man richtig jagt«, lachte Tilal leise, als Pol wieder einmal auf einen Zweig getreten war, der ihn durch sein lautes Knacken erschreckte.
»Lord Chadric nimmt uns manchmal mit, aber dann immer zu Pferd, zur Hirschjagd. Zeig mir noch mal, wie man lautlos schleicht.«
Das tat Tilal, und Pol machte es ihm mit zunehmendem Geschick nach. Jeder Fuß wurde leise und überlegt aufgesetzt; jeder Muskel im Körper war unter seiner Kontrolle; alle seine Sinne öffneten sich den Gerüchen, dem Boden, dem Wind, den Geräuschen.
»Noch einen Schritt, und ich schreie«, sagte eine Frau ruhig.
Tilal griff nach Pols Ellenbogen, und beide blieben reglos stehen. Die Stimme war von der anderen Seite eines Brombeerstrauchs zu ihnen gedrungen. Pol kannte sie nicht und konnte auch nichts sehen, aber Tilals angespanntes, zorniges Gesicht verriet, dass er wusste, wer die Frau war.
»Ich meine es ernst, Kostas! Ich schreie, und dann laufen alle herbei und sehen dieses schändliche …«
»Nein, Gemma. Ihr schreit bestimmt nicht. Bei all dem Lärm von den Falken und vom Markt, wer sollte Euch da schon hören! Außerdem will ich Euch ja gar nichts tun, Herrin. Kommt doch einfach her und bleibt bei mir.«
»Nein!«
Tilals Finger gruben sich schmerzhaft tief in Pols Arm. Er wollte den Jungen davon abhalten vorzustürmen. »Nein«, hauchte er. »Warte.«
»Aber er will …«
»Nicht einmal Kostas würde das tun.«
Pol überlegte. Vergewaltigung war ein abscheuliches Verbrechen. Wurde der Angeklagte für schuldig befunden, so verlor er jenen Körperteil, mit dem er einen solchen Angriff wiederholen konnte. Erhob eine Frau jedoch falsche Anklage, so fiel ihre Mitgift an den Mann, den sie beschuldigt hatte, und ihr Oberlord musste eine empfindliche Strafe für ihre Lügen entrichten. Kostas und Gemma kannten beide dieses Gesetz; sie würden nicht so dumm sein, eine Vergewaltigung oder die Anklage zu riskieren.
Mit ihrer nächsten Bemerkung an Kostas zielte Gemma darauf ab: »Ich bin sicher, Ihr wollt einmal Kinder haben! Aber seid versichert, Herr, dass sie nicht von mir sein werden!«
»Wenn Ihr mich anklagt, kann ich meine Unschuld beweisen. Und dann werdet Ihr Ossetia verlieren, denn das ist Eure Mitgift. Ich werde mit oder ohne Euch Prinz von Ossetia, Herrin. Ich wäre es jedoch lieber in allen Ehren mit Euch an meiner Seite.«
»In allen Ehren!«, rief sie heftig. »Und wie wolltet Ihr Eure Unschuld beweisen? Wieso glaubt Ihr, mein Onkel, Prinz Chale, würde es in diesem Fall überhaupt zu einem Prozess kommen lassen? Ich muss Euch nur anklagen, und er bringt Euch um!«
»Wenn mein Onkel, der Hoheprinz, hinter mir steht? Das glaube ich kaum, Herrin. Es gibt vier Zeugen von tadellosem Ruf, die bereitwillig schwören werden, dass ich den ganzen Tag mit ihnen zusammen war. Komm, Gemma«, sagte Kostas mit weicherer Stimme, »Schluss jetzt mit dem Unsinn. Wir waren schon immer füreinander bestimmt. Noch bevor du Chales Erbin wurdest. Sag ja, und ich schwöre, ich werde dich glücklich machen und als guter und weiser Prinz über unsere
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