Mondlaeufer
die Tür langsam und quietschend öffnete. Maarken saß senkrecht im Bett, und Hollis stieß einen leisen Entsetzensschrei aus. Maarken konnte die Stimme der Frau in den seidigen Schatten nicht erkennen.
»Soso.« Plötzlich lachte die Frau nachsichtig. »Dann könnt ihr die Nacht ja eigentlich so fortsetzen, wie sie begonnen hat. Immer mit der Ruhe, Kinderchen.«
Die Tür schloss sich, und fort war sie.
Maarken schluckte. »Wer, was glaubst du, war das?«
»Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Aber, ganz gleich, was sie gerade gesagt hat, wir bekommen Ärger, Maarken.«
»Ich liebe dich, Hollis. Es war richtig, was wir getan haben.«
»Für dich und für mich schon, aber nicht, was Andrade betrifft.«
»Zur Hölle mit Andrade«, sagte er ungeduldig, »ich habe dir doch gesagt, dass sie uns nicht bestrafen wird. Du hast gehört, was uns gerade gesagt wurde. Der Rest der Nacht gehört uns. Darauf bestehe ich. Und ich werde die Zeit bestimmt nicht verschwenden!«
»Aber …«
»Pst.« Mit einem Kuss brachte er sie zum Schweigen. Begehren glühte in seinen Adern und verwandelte sein Blut in geschmolzenes Sonnenlicht. Sie zögerte einen Augenblick, seufzte dann und sank ihm in die Arme.
Am nächsten Morgen ging er allein zu dem Baumkreis, in dem die Faradh’im ihre Zukunft befragten. Nackt kniete er vor dem spiegelglatten Teich unter einem Felsvorsprung. Er saß nicht vor dem Baum des Knaben oder dem des Jünglings, sondern vor dem Baum des Mannes. Eines Tages würde er sich den großen Föhren zuwenden, die seine Vaterschaft und sein Alter symbolisierten, doch jetzt noch nicht: Nach dem Lichtläufer-Ritual war er heute ein Mann. Er beschwor Feuer über dem unberührten Wasser, riss sich ein Kopfhaar aus, das für die Erde stand, aus der er geschaffen war, und fachte mit der Luft seines eigenen Atems die Flamme an. Im Feuer sah er ein Gesicht: sein eigenes mit den betonten Wangenknochen seines Vaters und den großen Augen seiner Mutter. Dann flackerte das Feuer, und ein anderes Gesicht erschien neben seinem. Er sah eine Hollis, die jetzt älter war, ihr lohfarbenes Haar geschmeidig um den Kopf geflochten und durch ein feines silbernes Diadem mit einem einzelnen Rubin zusammengehalten. Das wies sie als Herrin von Burg Radzyn aus.
Als er sich in seinem Glück einigermaßen gefangen hatte und zurückgekehrt war, wartete eine Strafpredigt von Lady Andrade auf ihn. Ihr Zorn über seine Missachtung der Traditionen der Schule der Göttin prallte wirkungslos an ihm ab. Als sie schließlich ärgerlich nachfragte, ob er sein Verhalten bereue, lächelte er sie freundlich an:
»Ich habe Hollis in Feuer und Wasser gesehen.«
Andrade holte tief Luft und runzelte streng die Stirn. Doch sie verlor kein Wort mehr darüber, und weder Maarken noch Hollis wurden bestraft. Trotz allem war er der Erbe eines bedeutenden Lebens, Enkel von Prinz Zehava und Cousin des nächsten Hoheprinzen. Ohne die Zustimmung seiner Eltern und seines Hoheprinzen konnte er weder heiraten noch eine offizielle Wahl treffen. Doch er war erst neunzehn, und Hollis war zwei Jahre älter. Sie hatten Zeit.
Nachdem Hollis im darauf folgenden Sommer ihren fünften Ring erhalten hatte, wurde sie nach Kadar Water in Ossetia geschickt. Das lag nah genug für gelegentliche Besuche, und Unterhaltungen über das Sonnenlicht zwischen einer ausgebildeten Faradhi und einem Neuling auf diesem Gebiet waren problemlos. Für Maarken war es ein Anreiz, seine Studien zu vertiefen, um die Verständigung zu erleichtern. Die Tage waren erträglich, wenn er ihre Farben über das Sonnenlicht berühren konnte; die Nächte waren lang.
Hollis selbst war diejenige, die um Geduld bat. Sie bestand darauf, dass er weder mit seinen Eltern noch mit dem Hoheprinzen sprach, ehe sie beide den sechsten Ring besaßen, der für die Fähigkeit stand, das Mondlicht so gut verwenden zu können wie das Sonnenlicht. »Sie müssen wissen, dass ich dir – und ihnen – nützlich sein kann«, sagte sie ihm offen, »und du musst beweisen, dass du alles gelernt hast, wozu du geboren bist. Ich lerne, was ich bei Hof wissen muss und wie man eine Burg führt. Das kann ich nur hier in Kadar Water. Ich muss für dich ebenso Dame wie Lichtläuferin sein. Außerdem muss ich mich auch mit Pferden auskennen, wenn ich eines Tages in Radzyn bin. Und wo könnte ich das besser lernen als in Kadar Water, bei eurer Konkurrenz?« Obwohl sie beide darüber gelacht hatten, war sie schnell wieder
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