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Mondlaub

Titel: Mondlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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furchtbar, denn jedes Mal war es in gewisser Weise auch Tariq, der wiederum starb. Aber die anderen überlebten, und auf diese Weise erhielt Layla inmitten ihrer todgeweihten Stadt ein Geschenk, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatte. Jedes lebende Kind, selbst wenn es sie gelegentlich ebenso aufrieb wie Suleiman und sie auch nicht zarter mit ihm umging, erlöste sie ein wenig von dem zersetzenden Schuldgefühl, das sie seit Jahren mit sich herumtrug.
    Ohne ihre Helfer wäre sie allerdings verloren gewesen. Es waren nicht nur die Ärzte; viele der Frauen in der Alhambra, auch einige ihrer älteren Halbschwestern, die sie kaum kannte, schlossen sich ihr an, teils aus Mitleid, teils, um dem zermürbenden Warten zu entgehen. In der Regel fehlte den Kindern ohnehin hauptsächlich regelmäßige Ernährung und Wasser, das dank der alhambraeigenen Zisterne und der Quellen aus den Bergen reichlich vorhanden war. Mit denjenigen, die schon wieder laufen konnten, machte Layla Spaziergänge auf den Wällen. Dort, hoch oben, waren sie gegen alle Gerüche und Klagerufe aus der Stadt gefeit, aber nicht gegen den Anblick der riesigen Armee, die sie wie eine tödliche Schlinge umgab.
    »Was machen sie da?«, fragte eines Tages eines der kleinen Mädchen und zeigte auf das christliche Lager.
    »Sie warten«, erwiderte Layla abwesend. »Genau wie wir.«
    Doch das Kind schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich meine - da!«
    Layla beschirmte ihre Augen mit der Hand und versuchte zu erkennen, was sie meinte. Das Lager war beinahe unübersichtlich, doch ganz hinten schien irgendeine Art von erregter Geschäftigkeit im Gange zu sein. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen. »Sie bauen etwas«, sagte sie zögernd.
    Sie bauten eine Stadt.
    Es dauerte insgesamt achtzig Tage, und jeden Tag kletterten mehr Leute auf die Mauern, um Burg und Stadt, um dem unglaublichen Schauspiel zuzusehen. Es war klar, was die Könige damit sagen wollten: Sie waren gekommen, um zu bleiben. Und immer noch keine Hilfe aus Fez.
    Muhammad und Musa ben Abi Ghassan gelang es durch einige selbstmörderische Ausfälle, die Bauarbeiten ein wenig zu behindern, doch da die Ergebnisse in keinem Verhältnis zu den enormen Verlusten standen, die sie dabei erlitten, gaben sie es auf.
    Eines Abends ließ Layla die Kinder und die Frauen zurück, um in den Generalife zu flüchten. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass die Gartenanlagen ihre makellose Schönheit behalten hatten, dass es immer noch etwas gab, was seit ihrer Kindheit unverändert geblieben war. Es hieß, dass die ersten Emire, welche die Gärten anlegten, das Paradies nachahmen wollten, so wie es im Koran beschrieben war: » Und er belohnt sie für ihre Standhaftigkeit mit einem Garten aus Seide…«
    Sie schrak zusammen. Jemand hatte das Zitat laut ausgesprochen, doch nicht sie. Es war Neumond, und die Bäume schienen größer, undurchdringlich. »Ifrit?«, sagte sie leise. Ein Mann löste sich aus dem Dunkel, doch als Layla seinen Atem hörte, wusste sie, dass es ein Mensch sein musste. Nicht Jusuf.
    Muhammad.
    Er trug keinen Tailasan, und im schwachen Licht der Sterne sah sie, dass sein Haupt mittlerweile von einem dichten Netz grauer Haare überzogen war. Und doch lag sein einunddreißigster Geburtstag noch nicht lange zurück.
    »Es steht wohl geschrieben, dass unsere Wege sich immer wieder kreuzen, Layla, Tochter von Isabel de Solis«, sagte Muhammad. Er schaute nicht sie an, sondern den Brunnen, gegen den sie sich lehnte, und mit einem Schock erkannte sie, dass es derselbe war, vor dem Muhammad einst das Geschenk der Zwillinge abgelehnt hatte.
    »Jeder Weg hat einmal ein Ende«, entgegnete sie gepresst.
    Er seufzte. »Und er belohnt sie für ihre Standhaftigkeit«, wiederholte er. »Am Ende dieses Weges wird es keine Belohnung geben. Musa hat mir eben berichtet, dass sie die Wachen für die Pferde verstärken müssen, weil jedes Pferd, das den Leuten in die Hände fällt, sofort erschlagen wird. Drei Familien können sich davon ernähren. Wir sind am Ende, Layla.«
    Sie blickte zu Boden. »Dann wirst du kapitulieren?«
    »Der Rat und die Truppenführer sind noch immer dagegen. Aber ich kann das nicht länger verantworten. Wenn ich wüsste, wie, würde ich schon morgen mit den Christen verhandeln.«
    Sie wollte nicht länger bei diesem Brunnen bleiben und nahm ihren Spaziergang wieder auf. Er folgte ihr.
    »Warum schickst du nicht einfach Gesandte?«, fragte sie über die Schulter hinweg. »Schließlich bist du

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