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Mondlaub

Titel: Mondlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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insofern wohl die geeignetere Auskunftsquelle. Also beschränkte Layla sich darauf, ehrfurchtsvoll dem Vortrag Ibn Faisals über die Bedeutung von ilm, Wissen, zu lauschen, und zog mit Tariq anschließend zu Fatima.
    Ihre Amme klatschte in die Hände, ein weiteres Mittel, um die Geister abzuwehren. »Es wird wegen des Fluches sein«, flüsterte sie geheimnisvoll. Die Zwillinge blickten sich entzückt an; das klang besser, als sie gehofft hatten. »Was für ein Fluch?«, fragte Layla.
    Fatima zog die Stirn in Falten, wie sie es immer tat, wenn sie ihre Zuhörer tief beeindrucken wollte. »Es heißt, dass der gesegnete Muhammad nicht der Erste war, der auf dem roten Hü gel baute. Vor ihm herrschten die verdammten Berber, die Banu Ziri, und einer von ihnen, Badis, vergaß sich so sehr, dass er nacheinander einen Juden und dessen Sohn zu Wesiren machte.«
    Natürlich hatten die Zwillinge schon von Samuel ha Levi gehört oder Ismail Ibn Nagralla, wie sein arabischer Name gelautet hatte, dem berühmten jüdischen Wesir von Granada. Der Nagid, wie ihn seine Zeitgenossen und die Geschichtsschreiber bezeichnet hatten, war auch als Dichter und Gelehrter berühmt gewesen, und Ibn Faisal hatte seine jungen Schüler bereits mehrere Gedichte Samuels rezitieren lassen. Doch Samuel ha Levi war, soweit sie wussten, friedlich in seinem Bett gestorben, und keine Geschichte brachte ihn mit irgendwelchen Flüchen in Verbindung.
    »Ich weiß schon«, sagte Tariq und sprach Laylas Gedanken aus,
    »Ismail Ibn Nagralla. Aber was hat der mit Flüchen zu tun?«

    »Nicht er«, verkündete Fatima in ihrer tiefsten Stimmlage,
    »sein Sohn, Jusuf. Jusuf war voller Stolz und Hochmut und führte gotteslästerliche Reden. Er ließ seine Glaubensgenossen sogar Waffen tragen und wagte es, einen Palast errichten zu lassen, der prächtiger wurde als der seines Herrn, des Emirs. Da war das Maß voll, und die Berberfürsten, die Sinhadja, stürmten gemeinsam mit dem Volk die Residenz des Juden… Sie kreuzigten ihn am Stadttor und schlugen vor seinen Augen Tausende seines Volkes tot. Es heißt aber, dass Jusuf, bevor er starb, Volk und Herrscher von Granada verfluchte und prophezeite, sein Geist würde nicht ruhen, bis auch der letzte Araber aus Granada vertrieben und die Juden gerächt wären.«
    Das war die schaurigste Geschichte, die Fatima den Zwillingen je erzählt hatte, und sie waren gebührend beeindruckt. Außerdem erwies es sich als kluger Schachzug, Ibn Faisal davon zu berichten, denn nun fühlte er sich in seiner Ehre getroffen. Er rückte seinen grünen Gelehrtenturban zurecht und schnaubte verächtlich: »Abergläubisches Geschwätz! Es war eine unglückselige Geschichte, das ist alles. Wir hatten in al Andalus nie Schwierigkeiten mit den Juden, nicht vorher und nicht nachher. Niemals haben wir sie oder die Christen gezwungen, sich zum wahren Glauben zu bekennen, nicht zu Zeiten des gesegneten Kalifats und nicht in den Zeiten der taifa, der Stadtstaaten. Ismail Ibn Nagralla war ein großer Wesir. Aber die Juden Waffen tragen zu lassen, das ging zu weit, und da kam es eben zu Gewalttätigkeiten. Eine bedauerliche Entgleisung in der glorreichen Geschichte von al Andalus. Doch das braucht euch nicht zu kümmern, schließlich herrschten damals die Sindhadja, nicht die Banu Nasr, und von den Berbern war nie Gutes zu erwarten.«
    »Aber dieser Palast, den Jusuf da baute…«, begann Layla zö gernd, und Tariq fuhr eifrig fort: »War das die Alhambra?«

    »Unsinn!«, sagte Ibn Faisal scharf. »Ihr wisst doch alle beide genau, wer die Alhambra gebaut hat. Muhammad Ibn al Ahmar und seine Nachfolger bis zu Muhammad ben Jusuf, der sie vollendete. Die ganze Geschichte ist heillos übertrieben, und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
    Die Zwillinge sahen sich an. Es gab Zeiten, wo sie Ibn Faisal so lange bedrängen konnten, bis er um des lieben Friedens willen nachgab, aber heute war dies nicht der Fall. Sie gehorchten und übten ihre Schreibkünste, statt weiter von der Vergangenheit zu sprechen. Später saßen sie an einem der künstlichen Bäche und versuchten, Steine springen zu lassen.
    »Glaubst du, es sind wirklich Tausende Juden gestorben?«, fragte Layla und griff nach einem neuen Kiesel.
    Tariq biss sich auf die Lippen und antwortete nicht. Er warf seinen eigenen Stein, der fünfmal auf der Wasseroberfläche tanzte, bevor er versank.
    »Der Koran sagt«, fuhr das Mädchen fort, »wir müssen die Juden beschützen, weil sie das Volk der

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