Mondlaub
Zukunft war gesichert - ihre Mutter hatte versprochen, dafür zu sorgen, dass er als geehrter Gast bleiben konnte -, sodass ihn in diesen Wochen weniger das Ende seiner Tätigkeit als Laylas ständige Fragen plagten.
»Wenn, wie Ibn Hazm sagt, in den Augen Allahs niemand grö ßer ist als der Gelehrte, der anderen sein Wissen vermittelt, wieso beugt sich der Gelehrte dann vor dem Fürsten?«
»Weil Gelehrte den Platz von Fürsten kennen, aber Fürsten nicht den Platz von Gelehrten. Erinnert euch immer daran, es gibt keinen größeren Schatz als ilm, Wissen.«
»Aber wieso hat dann Ibn Hazm eine Streitschrift gegen Ismail Ibn Nagralla geschrieben, wo er ihn doch selbst als den gelehrtesten Mann bezeichnet hat, der ihm je begegnet sei? Das heißt doch, dass Ismail Ibn Nagralla in den Augen Allahs…«
Ibn Faisal seufzte. »Ibn Hazm«, erläuterte er und fragte sich, ob das immer wieder aufflammende Interesse dieses Mädchens für die beiden jüdischen Wesire von Granada nicht ein schlechtes Zeichen war, »verfasste diese Streitschrift nicht gegen den Gelehrten Ismail Ibn Nagralla, sondern gegen den Privatmann Samuel ha Levi, der es vorher tatsächlich gewagt hatte, eine Abhandlung über Widersprüche im Koran zu verfassen. Kein Wunder, dass sein Sohn es später schaffte, die gesamte Sinhadja mit seinen gotteslästerlichen Sprüchen zu beleidigen.«
»Besitzt unsere Bibliothek ein Exemplar?«, erkundigte sich Layla mit einer so lebhaften Neugier, dass sich Ibn Faisal zu einem ernsthaften Tadel veranlasst sah.
»Wenn dem so sein sollte, dann wäre eine derartige Schrift keine Lektüre für junge Mädchen - oder überhaupt für unreife Köpfe«, fügte der Lehrer hastig hinzu, als er sah, wie Tariq den Mund öffnete.
Layla fragte nicht weiter, doch sie vergaß kein einziges Wort.
Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie etwas wie Eifersucht auf ihren Zwillingsbruder, ihr anderes Selbst, und das Gefühl erschreckte sie zutiefst. Es legte nahe, dass sie und Tariq nicht länger gleich waren, dass es eine Kluft zwischen ihnen gab, und das konnte sie nicht akzeptieren.
Daher stand sie, als Tariq zum ersten Mal zur Sabika ging, auf der Mauer und schaute ihm gemeinsam mit ihrer Mutter nach, fest entschlossen zu beweisen, dass es so etwas wie Eifersucht für sie nicht gab. Ihr Vater war an diesem Tag nicht in Granada; die Bauern an der Grenze hatten sich beklagt, dass die Raubzü ge der Kastilier diesmal das erträgliche Maß überstiegen, und er wollte sich selbst ein Bild davon machen. Es war seit ein paar Jahren sowohl von granadischer als auch von kastilischer Seite üblich, etwa dreitägige Ausflüge über die Grenze zu unternehmen, dabei einige Felder zu verwüsten und so viel Beute wie möglich einzusacken. Wer damit angefangen hatte, spielte keine Rolle mehr; wichtig war, dass auf jeden Zug der einen Seite einer der anderen erfolgte, wobei beide das nicht als offizielle Kriegserklärung auffassten.
Der Emir war also fort, und damit war Muhammad der Ranghöchste auf der Sabika. Während Layla und ihre Mutter außerhalb der Hörweite im Wind standen und die jungen Männer beobachteten, teilte Muhammad Tariq sein Pferd zu. Tariq warf einen ungläubigen Blick auf die sanfte, braune Stute, die er gut kannte; damit wurde den Kindern innerhalb der Zitadelle das Reiten beigebracht. Er lehnte ab und forderte ein anderes Tier.
»Du bist noch zu jung, um ein anderes zu reiten«, sagte Muhammad ruhig.
»Bin ich nicht!«, protestierte Tariq aufgebracht. Von der Mauer aus bemerkte Layla nur, dass er sehr aufgeregt war. »Ich kann ein echtes Rennpferd reiten, sogar… sogar deines!«
Die Umstehenden schwiegen mittlerweile alle und hielten den Atem an. Niemand außer Muhammad hatte es bisher fertig gebracht, den feurigen Tadsch-al-Muluk zu zähmen, ein Geschenk des Herrschers von Fez, ein Pferd, das die unbarmherzige Wüste noch in sich trug.
»Du bist nicht nur jung, sondern auch dumm«, entgegnete Muhammad langsam. »Er würde dir die Knochen brechen.«
Tariq reckte sich ein wenig. »Warum sagst du nicht die Wahrheit«, gab er herausfordernd zurück. »Du hast Angst, dass ich es schaffen könnte, weil du eifersüchtig auf mich bist. Genau wie deine Mutter.«
Einige Sekunden lang stand Muhammad still da. Dann sagte er tonlos: »Also gut, versuch es.«
Ein anderer seiner Halbbrüder, Raschid, näherte sich Muhammad und flüsterte: »Das kann doch nicht dein Ernst sein…«
»Lass ihn nur«, sagte Muhammad.
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