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Mondlaub

Titel: Mondlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Körper«, rief er und schüttelte sein Haar, das zu lang für das eines Arabers war. »Nach vierhundert Jahren wieder ein Körper!«
    »Vierhundert Jahre?«, wiederholte Layla.
    »Vierhundertachtundzwanzig Jahre und sieben Monate. Seit ich menschlich war.«

    Er näherte sich ihr und sie zwang sich, nicht zurückzuweichen.
    Einen Schritt von ihr entfernt blieb er stehen. Sie hätte seinen Atem spüren müssen, aber er atmete nicht. Erst da verstand sie, dass er wirklich war und nicht etwa ein Soldat oder ein Diener, der sie belauscht hatte und sich einen Scherz mit ihr erlaubte.
    »Und so ist es ein kleines Halbblut«, sagte er amüsiert, »das mich zurückbringt.«
    Die gönnerhafte Art, in der er mit ihr sprach, begann Layla an den alten Mann zu erinnern, der jetzt wahrscheinlich vor einem der rußigen Kamine Wein trank, und, Geist oder nicht, Fluch oder nicht, sie war nicht gewillt, sich das gefallen zu lassen.
    »Jusuf ben Ismail«, sagte sie und benutzte absichtlich seinen arabischen Namen, »mir ist gleichgültig, ob du einen Körper hast. Kannst du mir bei meiner Rache helfen oder übersteigt das deine Kräfte?«
    Einen Moment lang wirkte er verblüfft. Er musterte sie, als hätte sie sich in einen Dschinn verwandelt. Dabei fiel ihr auf, dass seine Augen von einem unglaublichen hellen Grau waren. Ihr war kalt, und ihre Haare sträubten sich, aber sie erwiderte seinen Blick, ohne die Lider zu senken. »Ein Handel«, sagte er plötzlich. »Ich schlage dir einen Handel vor, kleines Mädchen.«
    »Ich bin kein kleines Mädchen mehr.«
    Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich werde dir helfen.«
    Ihr alter Freund, die Furcht, begann sich allmählich wieder bei Layla zu melden. In den Märchen befahl man Geistern einfach im Namen Salomons und sie gehorchten. Aber man verhandelte nicht mit ihnen. Zumindest nicht in den arabischen Geschichten. In den Monaten ihres Exils hatte sie Gelegenheit gehabt, andere Geschichten zu hören.
    »Was willst du dafür von mir?«, fragte sie misstrauisch. Sein Lächeln vertiefte sich.
    »Nicht mehr, als du mir schon gegeben hast, Layla. All die Jahre konnte ich euch sehen und hören, ich war überall und nirgends, aber ich hatte keinen Körper, ich konnte nicht mit den Sterblichen sprechen, nichts tun. Es ist deine Lebenskraft, die mir diese Gestalt verliehen hat. Gib mir davon, wann immer ich sie brauche, und ich werde tun, was du dir wünschst.«
    Er hatte »Lebenskraft« gesagt, nicht »Seele«. Aber selbst wenn es anders gewesen wäre, was machte das schon? Wofür sonst sollte sie wohl ihre Seele geben?
    Sie räusperte sich. »Ich bin einverstanden.«
    Er berührte ihre Hand. Seine war kalt, eiskalt, doch sie hielt der Berührung stand. Dann klopfte es und er war verschwunden.
    Einfach so, von einem Wimpernschlag auf den nächsten, und Layla fragte sich, ob nicht ihre Mutter, sondern sie selbst den Verstand verloren hatte.

    Don Sancho de Solis hatte beschlossen, Layla eine Duena zu besorgen, die sie erziehen und ihr den nötigen Schliff geben sollte. Dass er nicht etwa aus großväterlicher Fürsorge handelte, machte er mehr als deutlich. »Je eher ich sie bei Hof vorstellen und verheiraten kann, desto besser«, sagte er über die mit Fett- und Weinflecken verunzierte Tafel hinweg, während seine Enkelin ihn feindselig anstarrte. »Aber niemand nimmt ein Halbblut, das hässlich ist und keine Manieren hat.«
    »Meine Manieren«, entgegnete Layla aufgebracht, »sind die einer Sejidah vom Geschlecht der Banu Nasr, und sie sind noch viel zu gut für diesen… Froschtümpel!«
    Der alte Mann nickte einem seiner Freunde zu, der an diesem Abend bei ihm speiste. »Siehst du, was ich meine, Carlos? Unmöglich.«
    Insgeheim gestand Layla sich ein, dass sie sich längst nicht mehr wie eine Sejidah vom Geschlecht der Banu Nasr benahm; die Zurückhaltung, die sanfte Sprechweise, die Ehrfurcht gegenüber Älteren, die all ihre Erzieher ihr versucht hatten beizubringen, waren wohl endgültig verloren, falls sie je vorhanden gewesen waren. Doch sie tröstete sich damit, dass es die Schuld dieses grässlichen alten Mannes war. Sie lag auf der Strohmatratze, die er als Bett bezeichnete, starrte in die Dunkelheit und stellte sich vor, wie Don Sancho Ximenes de Solis samt seiner Burg und dem ganzen restlichen Kastilien in einem göttlichen Feuerregen unterging wie Sodom und Gomorrha.
    »Wenn du nicht so fest entschlossen wärst, das ganze Land zu hassen«, sagte Jusuf ben Ismail, »dann könntest

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