Mondmädchen
aufgeladen. Das ist alles.«
Ptoli blinzelte und steckte den Daumen in den Mund. Er hatte auch andere Angewohnheiten wieder angenommen, die er als Kleinkind gehabt hatte, was mich verwirrte. Als ich Olympus danach gefragt hatte, hatte er mir erklärt, dass Kinder, die viel verloren haben, manchmal zu einem Zeitpunkt zurückkehren, zu dem alles besser und sicherer war. Er sagte mir, ich sollte Geduld haben und Ptoli würde da von ganz alleine herauswachsen.
Und doch störte es mich. Ich nahm ihm die Hand vom Mund. »Komm, lass uns das Fingerspiel spielen, das du so gerne hast.«
»Der kleine Papyrushalm?«, fragte er mit dem schiefem Grinsen, das mich immer an Tata erinnerte. Ich nickte und sorgte dafür, dass er den nassen Daumen an seiner Tunika abwischte, bevor ich anfing. Ich setzte mich ein Stück nach vorn, um den Blick auf Alexandros zu versperren, während mein Zwillingsbruder vorsichtig den Vorhang beiseiteschob, um nach draußen zu linsen. Ich sang ein bisschen lauter, als ich ihn entsetzt aufkeuchen hörte.
Dieser kleine Halm beugt sich im Wind …
Dieser kleine Halm ist noch ein Kind ….
Dieser kleine Halm öffnet sich zur Sonne …
Dieser kleine Halm sagt: »Welch eine Wonne!«
Und dieser kleine Halm ruft: »Passt auf!
Auf uns könnt ihr schreiben, dann roll’n wir uns auf.«
Ptoli kicherte, während Alexandros rasch den Vorhang schloss und sich zurücklehnte. Ich warf einen verstohlenen Blick auf sein bleiches und verstörtes Gesicht.
»Noch mal, noch mal«, verlangte Ptoli.
Alexandros fing meinen Blick auf und wandte sich daraufhin zu Ptoli: »Ach, das ist doch ein Spiel für Kleinkinder«, verkündete er mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Hier, tausch mal mit mir den Platz, Schwester, dann kann ich unserem Kleinen Stier ein Kampfspiel zeigen, das viel mehr Spaß macht.«
»Ja, ja, tausch den Platz mit ihm!«, rief Ptoli. »Ist es ein echtes Kampfspiel? Werden sich unsere Finger bekriegen wie Achilles und Hector? Kann ich Achilles sein? Bitte?«
Ich rutschte hinunter, während Alexandros über mich hinwegkletterte. Wir versuchten vorsichtig zu sein, aber wir brachten dennoch die Sänfte ins Ungleichgewicht, wodurch einer der Träger stolperte und der gesamte Tross ins Schwanken kam. Die Männer ächzten vor Anstrengung, als sie die Sänfte wieder aufrichteten. Meine Hand zitterte, während ich vor dem Öffnen des Vorhangs innehielt. Verzerrte Schatten auf dem hellen Leinen wirkten wie Arme von gierigen Ungeheuern, die nach uns griffen.
Mach ihn auf !, befahl ich mir selbst. Alexandros würde es nicht lange gelingen, Ptolis ganze Aufmerksamkeit zu bannen. Vorsichtig zog ich den Leinenvorhang ein kleines Stück zurück. Mir stockte der Atem.
»Seht nicht hin, kleine Prinzessin«, flüsterte einer der Träger. »Es ist ein Verbrechen gegen die Götter.«
Aber, die Götter stehen mir bei, ich konnte den Blick nicht abwenden. Auf beiden Seiten der breiten Prachtstraße standen aufgereiht – so weit das Auge reichte – Kreuze mit den Körpern von Toten und Sterbenden: eine Grauen erregende Allee von Elend und Tod. Die meisten waren bewusstlos, aber einige stöhnten und baten um Erlösung. Gesichter tauchten auf, die ich erkannte, während ich gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfte: Mardian, Apollodorus, der junge Mann mit den leuchtend braunen Augen, der Ma’ani-Djehuti und Amunet unsere Kronen gereicht hatte … alle mit den verängstigten, schmerzerfüllten Mienen der Gefolterten. Octavian hatte alle Zeugen unserer Krönungszeremonie kreuzigen lassen – nicht nur den Oberpriester und die Oberpriesterin, sondern jeden einzelnen, der mit uns in dem Raum gewesen war. Ich schluckte schwer und schloss die Augen. Ich ertrug es kaum, mir die Qualen des gebrechlichen alten Priesters und der stolzen Amunet vorzustellen. Ich betete, dass sie inzwischen nicht mehr leiden mussten.
Alexandros stieß neben Ptoli ein gezwungenes, lautes Lachen aus, als eine Welle von Klagerufen zu uns herübergespült wurde. Ich machte die Augen wieder auf und streckte den Kopf weiter hinaus. Der nächste Schock: Sklavenhändler peitschten auf Männer, Frauen und Kinder ein, die auf Schiffe getrieben wurden, die wohl Sklavenschiffe sein mussten. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien, meine Augen brannten. Unser Volk – Griechen aus Alexandria, Ägypter und Juden – vergewaltigt, beraubt und nun auch noch versklavt. Das war es, was Mutter hatte verhindern wollen.
Ich schloss den Vorhang
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